Drei Plakatwände für die Gerechtigkeit

Plakatwände, die nicht für das neuste iPhone oder quietschbunte Süßigkeiten werben, sondern die Menschen auf soziale und politische Missstände aufmerksam machen sollen. Feel-Good Werbespots, um Politiker:innen zum Sieg zu verhelfen. Wie das Werbeframing für den Protest genutzt werden kann.

von Carla Magnanimo und Alina Fetting

© 20th Century Studios, Property of Searchlight Pictures

“How come, Chief Willoughby?”

Drei Meter hohe Plakatwände. Auf einer Wiese. Mitten im Nirgendwo. Wo normalerweise Werbung für den nächstgelegenen Diner oder einen Autohersteller pranken würde, formen sich schwarze Buchstaben zu einer Anklage auf tiefroten Hintergrund. Drei Fragen, gerichtet an einen Polizisten, gestellt von einer verzweifelten Mutter. “Raped while dying?” (dt.: Beim Sterben vergewaltigt?) fragt sie, “And still no arrests?” (dt.: Und immer noch keine Festnahme?) und schließlich “How come, Chief Willoughby?” (dt.: Wie kann das sein, Polizeichef Willoughby?). Mildred Hayes, verkörpert von Frances McDormand, hat drei großen Anzeigetafeln gemietet, um auf den gewaltvollen und ungeklärten Tod ihrer Tochter aufmerksam zu machen. Damit will sie die Aufmerksamkeit des Polizeichefs und der Gemeinde auf den Fall ziehen.

Aus Missouri auf die Leinwand

Hinter dem Oscar-prämierten Film aus dem Jahr 2017 “Three Billboards Outside Ebbing, Missouri” verbirgt sich eine wahre Geschichte. Die 28-Jährige Michelle Angela Yarnell wurde im Jahr 2003 von ihrer Mutter als vermisst gemeldet, nachdem Angelas Ehemann behauptete, sie wäre mit einem anderen Mann davongelaufen. Bis heute wurde Angela nicht gefunden. Anders als im Film, ließ Angelas Mutter Marianne Asher-Chapmann den Vermissten-Flyer auf die Reklamewände drucken, in denen sie um Informationen und Hinweise zum Verbleib ihrer Tochter bat. Der Regisseur Martin McDonagh ließ sich von dieser Geschichte inspirieren und verarbeitete das Schicksal von Angela in seinem Film. Dieser wurde 2018 für sieben Oscars nominiert, von denen einer an die Hauptdarstellerin Frances McDormand und einer an Sam Rockwell als bester Nebendarsteller ging.

Von der Leinwand auf die Straße

Der Film wurde nicht nur für seine Erzählung oder grandiose Besetzung gefeiert, auch die Art des Protestes bahnte sich ihren Weg in unsere reale Welt. In der ganzen Welt nutzten Organisator:innen öffentlicher Protestaktionen entweder die Macht der meterhohen Werbeflächen, welche für politische Mitteilungen genutzt wurden oder bedienten sich an der grundsätzlichen Ästhetik des Filmes. Sie schrieben ihre anklagenden Fragen gegen die Politik in schwarzer Schrift auf rotem Hintergrund auf Reklameflächen an Autos, welche durch die Innenstädte von London oder Hongkong fuhren. Als Werbung geframed wurde so Kritik an Politik geübt.

In London wurde durch die Kampagne Justice4Greenfell an den Brand im Wohnhochhaus Greenfell Tower erinnert, bei dem am 14. Juni 2017 72 Menschen starben. Bis heute wurde niemand verhaftet oder für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Die Protestaktion im öffentlichen Raum 2018 erinnerte mit drei mobilen Reklameflächen an die Umstände und konfrontierte die Politik und Gesellschaft mit der Frage “71 Tote. Und noch immer keine Festnahmen. Wie kann das sein?”.

In Miami nutzte die gemeinnützige Organisation Avaaz, die vor allem durch Online-Aktivismus bekannt geworden ist, drei Trucks mit den Billboard-ähnlichen Anzeigen “slaughtered in school | and still no gun control | how come Marco Rubio?” (dt: ermordet in der Schule | und immer noch keine Regulierung von Waffenbesitz | wie kann das sein, Marco Rubio?), um die fehlenden politischen Reaktionen nach einem Amoklauf im Jahr 2018 an einer Highschool in Parkland (Florida) zu verurteilen. In den Straßen New Yorks machten Trucks vor dem Weltsicherheitsrat auf den Syrien-Krieg aufmerksam und auch im Kosovo und auf Malta ragen rote Plakate in die Höhe.  

Eine andere Art von Aufmerksamkeit

Plakatwände, die anklagen. Die sich gegen das Versagen von Politik und Ungerechtigkeit wehren. Und die Aufmerksamkeit erregen wollen. Sowohl Mildred Hayes im Film als auch die Initiator:innen der Protestaktionen in der echten Welt waren sich darüber im Klaren, dass man den Aufmerksamkeitsfaktor, den Werbung erzeugt, auch für etwas anderes nutzen kann als bedeutungslose Konsumgüter. Bekommen politische Botschaften, die als Werbung geframed werden, auf einmal eine andere Gültigkeit? Was passiert mit uns, wenn ein Medium, dass normalerweise unser Konsumverhalten steuern will, für etwas anderes genutzt wird? Gewollt ist trotz allem unsere Aufmerksamkeit. Doch in diesem Fall sollen wir nicht den nächsten Supermarkt ansteuern und diese Aufmerksamkeit in schnellen, fast schon intuitiven Konsum umwandeln, sondern vielmehr geht es darum, innezuhalten, zu verweilen und über das Gesehene nachzudenken. Gefragt ist Reflektion anstelle von Reflex. Und im besten Falle zieht diese Reflektion eine nachhaltige Aktion, eine noch größere Welle an Protesten und Konsequenzen, nach sich.

Die Plakatwände bieten die Möglichkeit für eine andere Art von Protest im öffentlichen Raum. Anders als beispielsweise Demonstrationen, die meistens nur für eine beschränkte Zeitspanne Aufmerksamkeit erregen können. Heute dient die Straße einem Zug von Menschen, die für Klimaschutz und gegen den Kapitalismus protestieren, morgen ballern wieder glänzende BMWs über diese Straßen, um Firmenchefs in die Epizentren eben dieses Kapitalismus zu befördern. Plakatwände hingegen haben eine ruhige Beständigkeit, sind einfach nur da und klagen über einen längeren Zeitraum durch ihre Stille an. 

Yvette Williams, von der Initiative Justice4Grenfell, betont, dass die Plakatwände vor allem für jüngere Generationen bedeutsam wären, da für sie Referenzen zu einem Film den sie gesehen haben, ihnen hilft die Welt besser zu verstehen. Gleichzeitig sind Themen, die über Plakatwände vermittelt werden, einem breiteren Publikum zugänglich, die nicht nur Mainstream-Medien nutzen.

Auch die Farben rot und schwarz, die für die Plakatwände genutzt werden, entwickeln eine ganz eigene Macht. Dr. Mario Campana, der bis Mai diesen Jahres Dozent für Marketing und Verbraucherverhalten an der Goldsmith University in London, erklärt, dass rot psychologisch oft einem Zustand der Aktivierung, einer Warnung oder Gefahr assoziiert wird, während das Schwarz der Schrift eher mit Trauer in Verbindung gebracht wird. Die Aufmerksamkeit der Menschen wird also bereits durch die Farbwahl generiert. 

Auch Oscar-Gewinnerin Frances McDormand findet es großartig, dass Plakatwände als Medium noch funktionieren, insbesondere wenn sie von Aktivist:innen genutzt werden.

Feelgood-Werbespots für die Demokratie

Dass Protest und Werbung Hand in Hand gehen können, verdeutlicht auch ein anderer Film, “No” (2012) von Pablo Larrain, ebenfalls auf einer wahren Geschichte basierend. 1988 stand der chilenische Diktator Augusto Pinochet unter internationalem Druck, ein Referendum für das Fortbestehen seiner Macht zu veranlassen. Er sah sich gezwungen, seinen politischen Gegnern fünfzehn Minuten Werbezeit täglich im Fernsehen zu gewährleisten. Die Opposition, die die Wähler:innen zum „NO“ (dt: nein) stimmen lassen wollten, engagierten professionelle Werber:innen, die es sich zur Aufgabe machten, die Demokratie so aussehen zu lassen wie eine Feel-Good Coca-Cola-Werbung. Es wurden alle Werbetricks gezückt: eine Kompilation an glücklichen Menschen, ein Song, der im Ohr bleibt, chilenische und internationale Stars, die klar Seite beziehen.

Die Aussicht auf Erfolg erschien zu Beginn sehr gering, doch die Werbebilder übten ihre Macht aus. Die No-Seite gewann mit 54% und Pinochet musste abdanken. Was ein paar Werbetricks so alles bewirken können…

Dass sich Protestaktionen von Filmen und Serien inspirieren lassen, ist nicht neu. Anonymous- und Dalimasken folgten nach den Erfolgen von “V wie Vendetta”(2005) und “Haus des Geldes”(seit 2017). Auch die Gewänder aus “The Handmaid’s Tale”(seit 2017) wurden während Protesten überwiegender feministischer Natur aufgegriffen. Doch oft handelt es sich um Kleidung, die übernommen wird. Besonders bei dem “Three Billboards” Beispiel ist, dass dieses das Potenzial von Werbeplattformen als Protestplattform aufzeigt. Und dann kommt es einem nur absurder vor, dass so viel unsinniges Zeug beworben wird.

Weil oft große Einnahmesummen auf dem Spiel stehen, hat die Werbung über die Jahrzehnte in werbepsychologisches Wissen investiert und gelernt, wie man clever vermarktet. Das ist an und für sich erstmal keine schlechte Sache. Das Wissen, die Kreativität und das Handwerk könnten jedoch genutzt werden, um auf gesellschaftlich relevantere Themen aufmerksam zu machen.

Plakatwände als Mittel des Protests. Man könnte meinen, dass in den heutigen, digitalen Zeiten einschlägige Hashtags oder YouTube-Kampagnen deutlich effektiver wären, um auf soziale und politische Missstände aufmerksam zu machen. Doch möglicherweise sind in einer hoch digitalisierten Welt die einfachsten Mittel manchmal am effektivsten