
Ja, irgendwie ist das Kunst und ja, irgendwie kann das weg. Soll es sogar. Denn die Werbeplakate, die bei „Subway Peelings“ in New York dokumentiert werden, haben ihre besten Zeiten schon hinter sich – und genau das macht sie am spannendsten.
von Lana Debus
Es geht abwärts. Rund fünf Millionen Menschen nutzen in New York täglich die U-Bahn. Dabei sind sie mit proppenvollen Bahnwaggons, Pizza-Ratten, andauernden Verspätungen und stickigen, unterirdischen Stationen konfrontiert. Hinzu kommen laute Menschen mit Bluetooth-Speakern, schrill quietschende Schienen, fragwürdige Gerüche und grelle Leuchtröhren. Reizüberflutung: vorprogrammiert.
Der Untergrund scheint zu verkommen. Niemand verweilt hier lange genug, um sich wirklich um diese Orte zu scheren. Doch wenn man dem Ganzen eine Chance gibt, kann man auch hier Schönheit im schleichenden Verfall entdecken. Ist vielleicht der beste Zeitvertreib, wenn man eh noch auf die Bahn warten muss.
Das hat auch Elisabeth Skjærvold getan. Seit 2016 dokumentiert die Produzentin für Tanz- und Theaterproduktionen abgerissene Plakatwerbungen in den U-Bahnstationen ihrer Wahlheimat New York. Ihre Entdeckungen hält sie im Projekt „Subway Peelings“ fest. Was zunächst nur auf ihrem privaten Instagram-Account passierte, wurde schnell zu einem eigenständigen Projekt. Mittlerweile finden sich auf ihrem Instagram-Account „subwaypeelings“ mehr als 360 dieser fotografisch festgehaltenen Werke.

Erst aufkleistern, dann solange vergilben lassen, bis das Ganze von alleine abblättert. Den Rest erledigen gelangweilte Pendler:innen und Plakatierer:innen mit einer neuen Ladung Werbeposter, wenn sie die Überreste abkratzen. Anschließend wird wieder gekleistert und überklebt. Ein Plakatzyklus in vier Akten.
Skjærvolds Fotografien zeigen die Ausschnitte der abgerissenen Werbeplakate. Sie wirken collagenhaft; Gemäuer und unzählige Schichten Kleister und bunte Papierfetzen verschwimmen miteinander. Hier und da verirren sich auch gesprühte Graffitireste und Eddingkritzeleien mit ins Bild. Dieser Mix bringt neue Formen und Gebilde zum Vorschein.
In ihrer Freizeit ist Skjærvold ebenfalls als Weberin tätig. Und genau wie in ihren Arbeiten dort verflechten sich auch in den Peelings die einzelnen Elemente auf den Wänden zu einer Einheit.
Manchmal empfinde sie auch das Bedürfnis diese Peelings weiter abzureißen, so Skjærvold, doch sie hält sich mit Verfremdungen zurück. Ihre Werke halten den Prozess des Abblätterns und des Verfalls der Plakate genau so fest, wie sie sie vorfindet. Sie bestimmt einzig den Ausschnitt, den die Betrachter:innen zu Gesicht bekommen.

Beim genaueren Hinschauen gerät man in Versuchung zu erraten, was dort einmal in voller Gänze klebte. Welche Botschaften wurden hier wohl einmal vermittelt? Stand dort mal etwas zu einer Marathon-Veranstaltung? Und was für ein Event wurde hier wohl damals im August/September 2005 beworben? Die verschiedenen Schichten der Plakate spiegeln die Geschichte der Stadt wider, wortwörtliche Fetzen der Vergangenheit blitzen wieder in der Gegenwart auf. Ihre Entschlüsselung ist nur fragmentartig möglich, sie komplett zu rekonstruieren unmöglich. Bei ihren Posts auf Instagram gibt Skjærvold auch immer die Orte der Peelings an, an denen das Foto aufgenommen wurde: „Ich benutze das hauptsächlich zur eigenen Organisation. Außerdem gibt es einige Peelings, die seit Jahren existieren, abgedeckt werden und dann wieder auftauchen, so dass ich diese Standortnotizen gerne als Orientierungspunkte für mich selbst verwende.“
Das Aussehen der Peelings wird von ihren Orten geprägt und umgekehrt.


Völlig von alleine und über Jahre hinweg transformieren sich die Plakate vor den Augen der Bahnfahrenden in wandelnde Kunst, vorausgesetzt man hat ein gewisses Auge dafür. Es entsteht Street Art, beziehungsweise Public Art in Echtzeit. Zeitweise verschwinden sie und tauchen wie der Phönix aus der Asche in neuem Gewand auf. Beteiligt an der Erschaffung dieser Kunstwerke ist die ganze Stadt, angefangen von den zuständigen Köpfen hinter der eigentlichen Werbung, über die Plakatierer:innen bis hin zum Schulkind, das seinen alten Kaugummi auf das Gesicht eines H&M-Models klebt. Die Werke bleiben stets lebendig und betten sich ununterbrochen neu ins Stadtbild ein. Elisabeth Skjærvold selbst sieht ihren Part in diesem Prozess jedoch eher als Form der Dokumentation an. Sie fühlt sich mehr der Rolle der Archivistin verbunden als der der Künstlerin: „Mein Interesse liegt eher in der Bandbreite des Projekts, als nur die besten Peelings zu zeigen. Ich bin nicht so wählerisch oder spezifisch, wie ich es sein würde, wenn ich dies als meine „Kunstwerke“ betrachten würde.
Dennoch erinnern ihre Aufnahmen an Plakatcollagen der Affichisten (frz.: affiche = Plakat) in den späten 1940er bis 1960er Jahren in Frankreich. Dabei handelt es sich um die Künstlergruppe um Jacques Villeglé und Raymond Hains, die übereinandergeklebte Werbeplakate kreierten, die auch an verschiedenen Stellen abgetragen und dadurch zu Plakatzerfetzungen wurden. Teilweise beanspruchten sie auch anonym zerrissene Plakate auf der Straße für sich. Für sie verkörperten die Plakate die verzerrte Realität der Nachkriegszeit.

Auch Skjærvold vermutet hinter den Akteur:innen weniger Menschen, die aktiv gegen die Werbeflut im Stadtbild New Yorks protestieren oder Kunst machen wollen, sondern vielmehr gelangweilte Menschen, die gedankenlos an Plakatwänden knibbeln. Dennoch ist sie der Auffassung, dass Werbung uns im Alltag trotzdem auf gewisse Weise prägt:
„Ich denke, wenn man eine Weile hier lebt, wird man irgendwann unempfänglicher für Werbung, aber bei ausreichender Sättigung und Intensität prägen sie sich definitiv in das Unterbewusstsein ein.“
Orte wie der Times Square sind in New York mit ihren meterhohen Werbebildschirmen zu Pilgerstätten des Tourismus und Konsumismus geworden. Doch auch in anderen Teilen der Metropole bleibt Werbung omnipräsent. Selbst wenn sie – wie hier in den U-Bahnstationen – schon teilweise abgerissen ist, hat sie das Stadtbild in der Hand. Da ist es naheliegend, dass man irgendwann ein wenig abstumpft. Keiner merkt mehr wann neue Werbung kommt und geht, irgendwie ist sie ja immer da. Subway Peelings schafft es aber diese Tatsache wieder in Erinnerung zu rufen. Es animiert dazu seine Umgebung mal wieder etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht ist es auch hier die verzerrte Realität, der Glitch in der Matrix, der zum Nachdenken anregt.
Für alle Nicht-New Yorker:innen gibt uns Skjærvold zusätzlich dazu eine kleine Kostprobe wie das New York aussieht, das wir nicht in den Reisekatalogen gezeigt bekommen. Es wirkt erfrischend, urbane Stadtphänomene dieser Art von Einheimischen selbst präsentiert zu bekommen.
Auf Social Media hat das Ganze aber natürlich beispielsweise trotzdem eine andere Wirkung als in echt. Hier wird es schneller als Kunst oder Trend wahrgenommen. Die Art der Rezeption ist also an das entsprechende Medium gebunden. Skjærvolds Werke könnten auch genauso gut in einer hippen Galerie in Manhattan hängen.
„Offensichtlich unterscheiden sich der Kontext und die Wahrnehmung der Werke, je nachdem, ob man sie auf dem U-Bahnsteig, auf Instagram oder in einer Galerie zu sehen bekommt. Ich bin unglaublich voreingenommen, aber ich mag es, sie „in freier Wildbahn“ auf U-Bahnsteigen zu sehen. Ich bin sehr zwiegespalten, ob ich finde, dass sie in einer Galerie interessant wären, da sich diese Umgebung weniger inklusiv oder zugänglich anfühlen kann als ein U-Bahnsteig. Die U-Bahn fühlt sich egalitärer an und das Schöne ist, dass diese Abstraktionen für jeden zugänglich sind.“
Zu finden ist Subway Peelings auf Elisabeth Skjærvolds Webseite sowie auf Instagram unter @subwaypeelings.






