Sprachinseln – Québec als gallisches Dorf im nördlichen Amerika

von David Spier

PFK – Poulet Frit Kentucky. Man ist knappe 50km von der Grenze zu den USA entfernt und doch sind die sonst so unverkennbaren und einheitlichen Namen und Slogans der Großunternehmen vom übermächtigen Nachbarn auf den ersten Blick nicht immer zu verstehen. Als ich das erste Mal in Montréal unterwegs war, staunte ich nicht schlecht. Und das alles in einer Stadt, in der sich die meisten Einwohner:innen gut auf Englisch verständigen können – ob sie es dann tatsächlich machen, ist eine andere Geschichte. Montréal ist die größte Stadt von Québec, der einzigen Region Kanadas, in der die Mehrzahl mit Französisch als Muttersprache aufwächst, ansonsten umgeben von anglophonen Provinzen. Québec bildet somit eine sogenannte Sprachinsel, ein gallisches Dorf im englischsprachigen Teil Nordamerikas. Auch wenn meine Mutter aus Frankreich stammt und ich deshalb mit dem französischen Sprachpatriotismus vertraut bin, war ich über das Ausmaß der Maßnahmen zum Schutz der Sprache in Québec recht erstaunt. 

Der Begriff „Sprachinsel“ ist eher im deutschsprachigen Raum geläufig – im Englischen redet man von language island oder enclave – und wurde historisch meistens verwendet, um deutschsprachige En- bzw. Exklaven (je nach Sichtweise) in Mittel- und Osteuropa zu bezeichnen. Natürlich handelt es sich hier um metaphorische Inseln, in denen Sprachgruppen von anderen umgeben sind und von ihnen „überflutet“ werden können. Teilweise kann die jahrhundertelange Isolation zu starken Änderungen der Minderheitensprache führen: In Québec lässt sich dieser Prozess besonders gut beobachten. 

1760 wurde die französische Kolonie Quebec vom britischen Empire annektiert und der Zuzug weiterer Kolonialherren aus Frankreich wurde eingeschränkt. Dennoch erhielt sich der Gebrauch der Sprache über zwei Jahrhunderte und nach einem langen, relativen Stillstand wurde die Unabhängigkeitsbewegung in den späten 1950er Jahren und frühen 1960ern immer aktiver. Es folgte ein Jahrzehnt politischer, sozialer und kultureller Liberalisierung (die sogenannte „Stille Revolution“). Dabei wurde die Verteidigung der eigenen Sprache als Kernaspekt der Autonomiebestrebung betrachtet, einige Separatist:innen beschrieben die Vormachtstellung des englischsprachigen Teils Kanadas als kulturellen und wirtschaftlichen Imperialismus. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass Québec selbst eine kaum verarbeitete Kolonialvergangenheit hat und heute noch indigene Völker dort isoliert und diskriminiert werden. In der Unabhängigkeitsbewegung werden ihre Anliegen jedenfalls kaum berücksichtigt, weshalb die sogenannten First Nations einem autonomen Staat Québec mehrheitlich skeptisch gegenüberstehen. Zweimal fanden bereits Volksabstimmungen über eine mögliche Unabhängigkeit statt, das letzte Mal (1995) verloren die Separatist:innen nur knapp. 

Diese Einstellung hat ebenfalls Konsequenzen für die Einwanderungspolitik. So werden in der Provinz Québec Zuwander:innen aus Ländern mit französischsprachiger Präsenz bevorzugt. Kanadaweit stammen die meisten im Ausland Geborenen aus (jeweils absteigend) Indien, China (ohne Hong Kong), Philippinen, Vereinigtes Königreich, USA; während in Québec Frankreich, Haiti, Algerien, Marokko und Italien die ersten fünf Herkunftsländer darstellen. Auch wenn Québec einen relativ guten Ruf in den nordafrikanischen Ländern genießt, haben arabische und berberische Zuwander:innen oft mit Diskriminierung zu kämpfen, wie es u.a. im Film Monsieur Lazhar veranschaulicht wird. 

Die Angst vor dem Verschwinden der sprachlichen Besonderheit in Québec hat zur berüchtigten Charta der französischen Sprache geführt (auch Gesetz 101 genannt), die 1977 von der Nationalversammlung der Provinz verabschiedet wurde. Seitdem ist einzig Französisch als Amtssprache Québecs vorgesehen. Neben Geschäftsnamen werden auch Filmtitel als Beispiel genannt, um die weitreichenden Konsequenzen dieses Gesetzes zu veranschaulichen. Demnach müssen Titel in anderen Sprachen fast ausnahmslos ins Französische übersetzt werden – dies betrifft teilweise Filme, die in Frankreich den Originaltitel auf Englisch behalten haben. Auch wenn es etwas seltsam klingt (und sich Französ:innen gern darüber lustig machen), ist es meistens schnell erkennbar, um welchen Film es sich handelt, so wird z.B. Toy Story zu Histoire de jouets oder Pulp Fiction zu Fiction pulpeuse. Manchmal ist es allerdings selbst für Französischsprachige nicht selbstverständlich, wie z.B. bei Origine (hinter dem sich Inception verbirgt) oder Ferrovipathes (steht für Trainspotting). Einige Begriffe aus dem Alltag klingen für europäische Frankophone altmodisch, wie z.B. „croustilles“ anstelle von „Chips“ – vielleicht war das zu Englisch? 

Deshalb haben mir nicht wenige stolze Québecois gesagt, dass ihre Heimat mehr zum Schutz der französischen Sprache beiträgt als Frankreich mit seiner alles regulierenden und konservativen Sprachakademie. Gleichzeitig ist es kaum zu überhören, dass viele englische Wörter und Redewendungen im Alltagsgebrauch verwendet werden, vor allem in Montréal, wo es teilweise karikaturartig wirkt. Auch wenn sich die schriftliche Sprache recht einfach von oben regulieren lässt, so ist der Einfluss auf den mündlichen Gebrauch viel schwieriger zu gestalten. Da sind die Unterschiede mit dem Französischen in Europa manchmal sehr groß, sodass Xavier Dolans Filme selbst in Frankreich größtenteils mit Untertiteln bestückt werden. 

Die Unabhängigkeitsbewegung ist in den letzten Jahren etwas stiller geworden, aber ruhig wird es wohl nie sein und Québec wird weiterhin eine Sonderstellung haben – und es ist auch schön, so viele Schriftbilder auf Französisch (oder Québecois?) zu sehen. Neben Québec gibt es andere kleinere frankophone Sprachinseln in Nordamerika, wie es u.a. der Fall in Alberta oder New Brunswick ist, die allerdings viel weniger sichtbar sind. Gleichzeitig bildet die (zumindest offizielle) Zweisprachigkeit Kanadas ein Gegenpendant zum Nachbarn im Süden und stellt einen wichtigen Anteil am Identitätskonstrukt des Landes dar – in diesem Fall wird plötzlich auch im anglophonen Kanada die Besonderheit Québecs als ein positives Attribut verkauft. 

Ein anderes Merkmal Québecs: die „Arrêt“-Schilder (immerhin ist die Form unverkennbar)