„Partyschaum und Liebe“ – Schiffbruch auf dem Meer der Meere

Warum der Schiffbruch nötig ist, um patriarchale und koloniale Traumbilder zu versenken und was der Pocahontas-Mythos und die „Einstürzenden Neubauten“ damit zu tun haben.

von Julius Twardowsky

Im April 1607 erreichen drei englische Schiffe die Chesapeake Bay im Gebiet des heutigen US-Bundesstaats Virginia. Im Auftrag der Aktiengesellschaft „Virginia Company of London“ und im Namen der englischen Krone errichten die gelandeten 105 Männer, unter ihnen keine Frau, nach einer mehrwöchigen Erkundung die erste dauerhafte englische Siedlung in Nordamerika: Jamestown. Nun ist die Küstenregion, auf die die englische Monarchie ab den 1580er Jahren Anspruch erhebt, zu diesem Zeitpunkt nicht unbewohnt: Die Kolonisten machen „Indianerkontakt“. Herrscher über dieses Gebiet und über mehr als dreißig Algonquin-„Indianerstämme“ ist der mächtige Paramount Chief Powhatan (sein indigener Name lautet eigentlich Wahunsenacawh), dessen Lieblingstochter Pocahontas unfreiwillig zum Mittelpunkt eines zentralen US-amerikanischen Gründungsmythos geworden ist. Denn die Begegnung zwischen den englischen Siedlern und den Natives der amerikanischen Ostküste ist in der Tat folgenreich und verläuft alles andere als friedfertig. Trotz heftigen Widerstands sind die Powhatan-Natives beinahe vierzig Jahre nach Ankunft der Kolonisten aus dem Gebiet um Jamestown weitläufig vertrieben und nahezu vollständig vernichtet. Pocahontas, von den Kolonisten als Geisel genommen, entführt und auf den biblischen Namen Rebecca getauft, wird mit einem englischen Tabakpflanzer zwangsverheiratet und stirbt schließlich in England, wo sie zuvor dem englischen Königshaus als „Indianerprinzessin“ vorgeführt wurde. Pocahontas trauriges Schicksal geistert seither, verklärt und umgedeutet, durch die amerikanisch-europäische (Pop-)Kultur. Es ist die Geschichte der friedliebenden Häuptlingstochter, die sich schützend vor den englischen Eindringling John Smith geworfen haben soll, kurz bevor dieser von ihrem Vater Powhatan erschlagen zu werden drohte. Christianisiert und mit dem Kind eines Kolonisten schwanger, wurde aus ihr das Symbol der anpassungswilligen indigenen Frau, die sich für das friedliche Miteinander der Kulturen, dem fremden Mann und seinen Bräuchen restlos hingibt. Wie der Zufall es will, ist es John Smith selbst – einer der Gründer von Jamestown –, der die heute bekannte Version dieser Geschichte zu Papier brachte.

© 1995 The Walt Disney Company

Die Ankunft der englischen Schiffe an der amerikanischen Küste, die den Algonquin-Natives als schwimmende Inseln erscheinen, markieren einen historischen Bruch. Sie läuten das Ende der vor-US-amerikanischen Welt samt ihrer indigenen Bevölkerung ein. Mit ihnen beginnt die Ära der neuen, der amerikanischen New World, deren räumliche Weite genug Fläche für die europäisch-kolonialistischen Wunschprojektionen bot (bei deren Verwirklichung die Natives ja auch nur im Wege standen…). 

Dass Pocahontas als indigene Frau zum Zentrum des Geschichtsmythos avancierte, ist auch nicht dem Zufall geschuldet: Wie Klaus Theweleit in seinem vierbändigen „Pocahontas-Komplex“ aufzeigt, verläuft die koloniale Landnahme immer über die Aneignung weiblicher Körper. Der europäische Kolonialismus lässt sich daher auch als Effekt einer phallozentristisch-patriarchalen Männerphantasie (ebenfalls Theweleit) begreifen, die sich durch den Raub von herrschaftlichen Frauenkörpern erfüllt. Insofern geht die Errichtung (oder Erektion) des europäischen Kolonialsystems in Amerika auch mit der Implementierung einer sexuellen Ordnung einher, die sich in Europa schon mit Beginn des 16. Jahrhunderts herauszubilden beginnt. Einer Ordnung, die auf der Einsetzung eines eklatanten Missverhältnis in der Beziehung zwischen Mann und Frau beruht: Im Verlauf dieser Entwicklung wird die Frau zum Meer der Meere und der Mann zum gepanzerten Schiff, das dieses durchkreuzt.

Der Frau kommt innerhalb dieser Ordnung eine besondere Rolle zu: Sie wird zu einem begehrenswerten Objekt der patriarchalen Herrschaftsphantasie; ihr Körper sowie ihre Weiblichkeit dienen dazu, die Wunsch- und Triebenergien der Männer abzuleiten und zu absorbieren. Der Wunsch fließt durch die Frau, schreibt Theweleit, und die kulturellen Bilder, die von ihr entstehen, sind Bilder vom Wasser: die Frau „als brausendes, spielendes, kühlendes Meer, als reißender Strom, als Wasserfall, als unbegrenztes Gewässer, durch das die Schiffe treiben“. Ihre Unterdrückung vollzieht sich durch ihre Überhöhung, ihre körperliche Existenz wird verneint. Sie, und vor allem ihre Vagina, wird zum Meer der Meere erhöht, dem utopischen Ort ohne Mangel, dem diesseitigen Paradies.  

Ergänzt werden diese Wasser-Bilder durch die „exotischen“ Frauen-Bilder des Kolonialismus: Bilder „frivoler Südseemädchen“, „wilder Indianerinnen“ und so weiter, deren Dasein innig mit dem Wasser verbunden ist. Es sind verheißungsvolle Versprechungen, die den Männern gemacht werden, aber von den realen Frauen selbstverständlich niemals erfüllt werden können. Der Frauenkörper ist eben nicht der utopische Ort, des freie(ren) Lebens, aber als Wunschmagnet bündelt er energetisches Potenzial und Möglichkeitssinn. Diese Frauen-Bilder fungieren als große Lockung der zum Aufbruch bereiten Männer-Abenteuer: Die Frau wird zum Lohn für die Begrenzung der Utopie. Dies bietet, so Theweleit, „viele Vorteile für die Herrschenden, wenige für den männlichen Eroberer, gar keine für die Frauen“.

Und so wie die Frau in diesem Prozess zum Gefäß jeglicher patriarchaler Wunschvorstellungen „erweitert“ wird, erhält der Mann durch die fortschreitende Disziplinierung und Triebkontrolle der europäischen Neuzeit einen „Panzer“, wird also „begrenzt“. Er wird „zu einem Zentrum von Kraft und Unternehmungsgeist, einem harten, gepanzerten Schiff, das man hinausschicken konnte, damit es die Welt aus der Perspektive Europas erfasse, und ‚ordne‘“ (wieder Theweleit). Zur indigenen Frau kommt der kolonialisierende Mann im doppelten Sinne als schwimmende und gepanzerte Insel, als Schiff und auf dem Schiff. Er ist von sich selbst und seiner Umwelt vollkommen isoliert und zu einer lustvollen und zärtlichen, nicht zwingend sexuellen, Begegnung nicht mehr fähig. Er vergewaltigt, mordet und rodet im Namen einer hegemonialen Männlichkeit, die nicht an frei fließenden Wunschströmen interessiert ist, sondern einzig an Geld- und Warenströmen, die zurück ins Heimatland fließen. Die Frau dient dabei als Blitzableiter revolutionären Potenzials. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der Kolonialismus auch als Kampf gegen die weibliche Sexualität geführt wird: Die koloniale Landnahme verläuft über die Inbesitznahme des Frauenkörpers. 

Durch die so eingehämmerte Spaltung der Geschlechter wird Weiblichkeit allmählich zu einem allgemeinen Prinzip der Bedrohung für den Mann. Der soldatisch-faschistische Mann des 20. Jahrhunderts fürchtet alles, was fließt und flüssig ist. Um seine „Panzerung“ aufrechtzuerhalten und sich vor seinem eigenen Begehren zu schützen, ist er fanatisch darauf fixiert, alles Fließende und Flüssige abzuwehren, einzudämmen und trockenzulegen. Dazu führt dieser Soldaten-Mann einen niemals endenden Krieg gegen alles, was seinem Körper äußerlich ist, gegen die unüberschaubar „wimmelnde“ Wirklichkeit, die „rote Flut“ des kommunistischen Proletariats oder die „verschlingende“ Weiblichkeit der erotischen Frau. Aber auch sein eigenes Körperinneres wird bekriegt und möglichst rein und trocken gehalten: die „Fluten“, die „Schleime“ und „Breie“ des eigenen Körpers – Substanzen, die vor allem mit Affekten des Lustempfindens des menschlichen Körpers verbunden sind.

Krieg als Erlösungsphantasie beim Corona-Leugner, Soldaten-Mann und Mörder von Idar-Oberstein Mario N.

Es schließt sich nun die Frage an, wie so etwas wie eine Versöhnung der Geschlechter und eine gemeinsame Existenz in Solidarität, über die aufgerichteten Panzer, Dämme und Barrikaden hinweg, überhaupt möglich ist. Die Fantasien werden bis heute auch noch in den schummrigsten Partyecken unserer Popkultur reproduziert, wie in etwa bei Alex C. und Yass “Sex an der Bar” (2007): “Partyschaum und Liebe – steig ein ins Meer der Triebe”.

Doch diese Traumbilder müssten verschwinden und durch reale Begegnungen und gemeinsame Erfahrungen ersetzt werden. Einen solchen Prozess des Erwachens aus dem Traum demonstriert ein anderes Stück Popkultur, das Duett „Stella Maris“/Meeresstern zwischen Meret Becker und Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten (1996).

Das Lied handelt von einem Liebespaar, das trotz gegenseitiger Anrufung und ausdrücklichen Wunsch lange nicht zueinander findet: „Wir haben uns im Traum verpasst“. In „harter Traumarbeit“ überbrücken sie gewaltige Distanzen, von Feuerland zum Pol, und finden sich dennoch nicht. Noch halten sie an den fantastischen Bildern fest, die für ihre Isolierung verantwortlich sind: „Bitte, bitte weck‘ mich nicht/Solang ich träum‘ nur gibt es dich…“. Auch hier sucht er nach ihr im Wasser: am „tiefste Punkt der Erde, Mariannengraben, Meeresgrund“. Wie kommt er da runter, wenn nicht im U-Boot-Panzer? Außer den Ruinen von Atlantis, also verstaubten Mythen, findet er dort aber nichts von Interesse, keine wirkliche Begegnung, keine echte Berührung; dem folgt eine erste Einsicht „Ich glaub‘ du kommst nicht mehr“ – der Panzer bekommt Risse… Die Suche geht aber erst einmal weiter, weiter per Schiff, die Segel sind gesetzt, Kurs: mythisches Eldorado, Goldland, das schon ab dem 16. Jahrhundert die Abenteuer-Lust der spanischen Konquistadoren weckte und in See stechen ließ. Nur Blixa sucht dort kein Gold, sondern etwas weit wertvolleres: nämlich die Frau. Dem Stern des Meeres hinterher, meint er, in ihr, als Stellvertreterin der heiligen Maria, Mutter Jesu, das Tor zum Himmel zu finden – darunter geht’s eben nicht. Aber ins Paradies gelangt er nicht, stattdessen landet er in der dunklen Nasskälte des Nordmeers, denn er „kann im Traum das Schiff nicht steuern/Eine Klippe schlägt es Leck“. Was zuallererst fatal klingt, führt in Realität zur Lösung, denn zum Ausklang des Liedes scheint es für die beiden doch Hoffnung zu geben.

Am Ende ist es der Schiffbruch, der die Liebenden aus ihrem Traum reißt, den Panzer auflöst und zueinander führt. Auch die patriarchalen und kolonialen Fantasien gehen damit unter. Es ist ein gemeinsamer Akt – „Wir träumen uns beide wach“ –, die Bilder zum Verschwinden zu bringen, Grenzen zu überschreiten, um realen Erfahrungen den Weg zu bahnen – „sich hineinstürzen, sich auflösen, namenlos werden“. Zugespitzt, ließe sich das auf die Formel bringen:

„Wir brauchen weiter nichts zu tun, als liebevoll die Arme auszubreiten und zu sagen: ‚Komm nur herein! Das Wasser ist herrlich.‘“ (Elaine Morgan) 

 „Partyschaum und Liebe, Tauch‘ ins Meer der Triebe“ – alex c. feat. Yass
© 1995 The Walt Disney Company