No Nation is an Island

Zur nationalen Identität von Großbritannien.

von Lina Mareike Zopfs

Gestrandet auf einer einsamen Insel ist eine bekannte Prämisse für viele Bücher, Serien und Reality Shows. Die Insel gilt als Motiv für das Abseits, die Abgeschlossenheit und Zuflucht. Sie kann Paradies und Gefängnis zugleich sein. Für manche bedeutet, auf einer Insel zu leben, aber auch sich erhaben zu fühlen. Besser, weil anders. Einzigartig, weil umgeben von Wasser. No borders attached.

In Großbritannien beeinflusst genau diese Inselmentalität der Distinktion das nationale Selbstverständnis. Im Brexit-Wahlkampf führte die Vote-Leave-Campaign den Inselstaat häufig als Argument gegen die Europäische Union an. Doch kann die geographische Lage als Insel, eine natürliche Grenze durch Wasser und Strand, wirklich so einen Unterschied machen? Mit Zypern, Malta und Irland gibt es noch drei weitere Inselstaaten in der EU und keine davon meldet sich aktuell aufgrund ihrer außergewöhnlichen Disposition als Island Nation. Warum ist gerade der britische Inselstatus so wichtig? 

Geographisch gesehen ist Großbritannien die größte europäische Insel und dem Festland dennoch sehr nah. Wenn man ganz im Süden auf den White Cliffs in Dover steht und über den Ärmelkanal schaut, kann man den französischen Strand erspähen. Nur 34 km Meer liegen an der engsten Stelle zwischen EU und der englischen Küste. Mit dem Eurotunnel könnte man sogar von einer Landverbindung zwischen Frankreich und der Insel sprechen. Dennoch waren auch die Franzosen einst skeptisch, ob Großbritannien in eine europäische Gemeinschaft passt. Zweimal blockierte Charles de Gaulle in den 1960er Jahren den Eintritt in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. In seiner Rede 1963 begründete er seine Ablehnung mit der britischen Kultur. Das Maritime als Insel, die Verbindungen zu weit entfernten, diversen Ländern und die ganz eigenen Traditionen eignen sich nicht für das junge europäische Projekt. 50 Jahre später greift David Cameron das Argument in seiner Grundsatzrede zur EU auf. „It’s true that our geography has shaped our psychology. We have the character of an island nation: independent, forthright, passionate in defence of our sovereignty.” Zwar platziert der ehemalige Premierminister das Land 2013 noch innerhalb der EU, aber er betont immer wieder den außergewöhnlichen Status des Vereinigten Königreichs und den Wunsch zur Selbstbestimmung. 

Der Blick auf das verregnete Königreich vom französischen Festland aus.
Foto: Lina Mareike Zopfs

Neun Monate nach Camerons Rede bin ich in den Südosten Englands gezogen. Meine Universität war europäisch ausgerichtet, nannte sich ‚UK’s European university‘. Bei jeder Möglichkeit schrieben sie sich Europa auf die Fahne. 2013 dachte ich mir nicht viel dabei. Jetzt verstehe ich es zum Teil als Statement zur damaligen UKIP Hochburg im angrenzenden Landkreis Thanet. Doch sich als Brit:in nicht europäisch zu fühlen, korreliert nicht direkt mit einer nationalistischen oder euroskeptischen Einstellung, sondern zeigte sich mir eher als gesellschaftlicher Normalzustand. Spürbar war das für mich vor allem in der Sprache. Fluggesellschaften warben mit Slogans wie „Europe is closer than you think“ mit Flügen nach Paris, Berlin oder Amsterdam. Es wurde diskutiert wie europäisch britisches Essen ist und Artikel titulieren mit „The British in Europe“, wenn sie britische Literatur auflisten, die auf dem Kontinent spielt. Das ist verwirrend. Selbst ohne EU ist Großbritannien faktisch ein Teil von Europa. Der Begriff Europa bezeichnet für die meisten Briten jedoch nur den Kontinent. Nicht Großbritannien und eigentlich auch nicht Irland, sondern alles auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Dort wo man schön in den Urlaub fahren kann: ‚Weekend Getaways‘, an sonnigen Stränden mit schlechtem Tee, gutem Wein und ‚continental breakfast‘. Kontinentaleuropa steht für das Andere, das nah, erreichbar und erschwinglich ist, aber nicht zu viel mit Großbritannien zu tun hat. Mit dem Brexit hat sich das kaum geändert. Gerade im akademischen Kontext rückt Europa in den Hintergrund. ‚UK’s European University‘ findet man nur noch im Kleingedruckten, denn jetzt steht Internationalität im Fokus. Gleichzeitig nimmt das Interesse an European Studies wie auch die Zahl der europäischen Studierenden ab. Obwohl sie alle in der EU bleiben wollten, äußerte sich nach dem Referendum nur einer meiner Freunde persönlich besorgt. Er würde wohl seine Förderung für sein Studio verlieren. Wie europäisch sie sich fühlen, habe ich meine Freund:innen nie gefragt. Oft wurde aber diskutiert, ob ich schon als britisch durchgehen könnte. Um das Referendum herum, wurde ich bei einem ersten Kennenlernen meist in den Commonwealth verortet. Oszillierend zwischen Südafrika und Australien hatte ich es nahezu ‚geschafft‘. Als britisch zu gelten, wurde als höchster Preis versprochen.

Um grob zu verstehen, woher diese Anziehung kommt, muss man in die imperiale Vergangenheit schauen, denn daraus ist die nationale Identität entwachsen. Im Vergleich zu den meisten Staaten der EU ist die britische Demokratie jahrhundertealt und als Mutter der industriellen Revolution brachte sie Fortschritt und auf lange Sicht Wohlstand nach Europa. Vor hundert Jahren war die kleine Insel die wichtigste Weltmacht mit der größten Ausdehnung des British Empires und herrschte über ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung. Kurz darauf standen sie 1940 alleine gegen die Nazis: die „finest hour“ der Briten. All das verbunden mit den Tugenden eines wahren Gentlemans macht für manche Briten den entscheidenden Unterschied zu den kriegsgebeutelten Völkern auf dem Kontinent und begründet das konfuse Gefühl einer überlegenen nationalen Identität.

Doch seit 1945 hat Großbritannien nicht nur das Empire verloren, sondern auch ihren Status als Weltmacht und als ‚wahre Gentlemen‘ könnte das Image der „Brits Abroad“ ebenfalls rosiger sein. Die nationale Identität steckt seit dem Verlust des Empires also in einer Existenzkrise und die EU hat nicht gerade geholfen sie wieder aufzubauen. Früher war Großbritannien am besten darin Kriege zu gewinnen und über Kolonien zu herrschen. Sie standen ganz oben. Mit einer übergeordneten Regierung in Brüssel fühlten sich manche plötzlich selbst fremdbestimmt und ‚kolonialisiert‘. Die Rückbesinnung auf die Inselnation und die gute alte Zeit in „splendid isolation“ war und ist eine patriotische, identitätsstiftende Maßnahme der Brexit-Befürworter:innen. Doch besonders clever ist sie nicht: Ohne EU waren wir mal wer. Ohne EU sind wir wieder wer. 

Natürlich kann man die britische Geschichte auch anders lesen und sicherlich, hoffentlich tun dies auch viele. Die Errungenschaften sind nicht nur Distinktionsmerkmale, die den Ärmelkanal zwischen Insel und Kontinent tiefer graben, sondern unweigerlich Verbindungen, gemeinsame europäische Geschichte. Schaut man sich allein das britische Königshaus an, wurden über Jahrhunderte Prinzen und Prinzessinnen aus Kontinentaleuropa eingeheiratet. Shakespeares Stücke spielen in europäischen Städten und das Volk selbst entstand im ersten Jahrtausend n. Chr. vor allem durch europäische Einwanderung der Angelsachsen, Dänen und Normannen. Die Bevölkerung ist also im Ursprung europäisch trotz der Grenze aus Wasser. Auch hat die Industrialisierung zwar in England begonnen, aber trat wie die Kolonialreiche gesamteuropäisch auf. Doch sind diese Aspekte der europäischen Geschichte nichts was unreflektiert und positiv in die Identitätsbildung einfließen sollte. Die Industrialisierung führte zu unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Kinderarbeit und Massenarmut. Wohlstand gab es nur für Fabrikherren und das British Empire war wie das deutsche Kolonialreich eine Zeit der Ausbeutung, Unterwerfung, Diskriminierung, Zwangsarbeit und Sklaverei. Kolonialgeschichte ist grundlegend rassistisch und sollte nie ein positives Attribut des nationalen Selbstverständnisses sein. Doch für einen Teil der Briten ist das Empire noch immer ein Grund für Nationalstolz, da sie, eine kleine Insel, mit ihrer beispiellosen Arbeitsethik und humanistischen Werten die kolonisierten Länder zu einem „besseren Ort“ gemacht hätten. Hinter dem Wunsch zur Rückbesinnung auf die Insel, steht also die nostalgische, unreflektierte Erinnerung an ein globales rassistisches Imperium. Noch gravierender ist, dass die verklärte, positive Sicht auf das vergangene Weltreich mit dem Brexit politisch befürwortet wurde, was nur zeigt das Rassismus und Nationalismus in Großbritannien ein strukturelles Problem bleiben.

Besonders sieht man dies in der Politik von Premier Boris Johnson, der inzwischen seine Ansage ‚Get Brexit Done‘ seit über einem Jahr umgesetzt hat. Endlich ist die EU für besorgte Euroskeptiker:innen keine Gefahr mehr für den geliebten Nationalstaat: Der Ausstieg ist vollbracht. Der Ärmelkanal ist wieder eine harte Grenze und schon schlägt der unfrisierte Premier vor eine Brücke nach Frankreich zu bauen. Ein solcher paradoxer Vorschlag wirkt höhnisch gerade nachdem die Brexit-Debatte während der Flüchtlingskrise mit dem Argument angefeuert wurde, es gebe zu viel illegale Migration durch den Eurotunnel. Seit das europäische „freedom of movement“ eingeschränkt ist und Brüssel sich nicht in die Grenzpolitik einmischen kann, scheint der Inselstatus nicht mehr so entscheidend. Für wirtschaftliche Zwecke kann man die Grenze wieder aufweichen, denn jetzt kann man ja alle Geflüchteten, die immer öfter mit Schlauchbooten ankommen, einfacher wieder zurückschicken.

Auch um Einwanderung aus Osteuropa muss man sich keine Sorgen mehr machen. 2015 meinte ein Kollege in London zu mir, dass er wirklich positiv überrascht war, wie nett der rumänische Handwerker gewesen wäre. Die Arbeit sei einwandfrei. Das wurde seinerseits als Ausnahme verbucht. Es reichte nicht aus um ein grundlegend rassistisches Weltbild zu verändern. Die EU wolle er unbedingt verlassen und Migration kontrolliert wissen.  Inzwischen fehlen aber Tausende Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und als LKW-Fahrer:innen. Die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert und die Anziehung der Insel ist dahin. Da bringt es auch wenig, dass Boris Johnson für ein „Global Britain“ wirbt. Anstatt mit Inselcharme dem verlorenen Empire nachzueifern, indem man eine wirtschaftliche Supermacht werden möchte, sollte Großbritannien grundlegend die koloniale Vergangenheit aufarbeiten und eine neue nationale Identität formen, die nicht auf nostalgischem Nationalstolz und einer menschenverachtenden Grenzpolitik der Abschottung beruht. Doch das ist nicht nur ein Problem der Insel, sondern auch eines der EU, denn die meisten europäischen Staaten glänzen nicht gerade mit einer weitreichenden kritischen Aufarbeitung ihrer Kolonialverbrechen. Da merkt man wieder, auch ohne Union ist Großbritannien ein Teil Europas. 1624 wusste das schon der englische Poet John Donne: „No man is an island entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main”. 

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