Auf dem nassen Asphalt spiegelt sich grelles Neonlicht. Das Motiv wurzelt in der Realität, wurde ein filmisches Stilmittel und schließlich zum Instagram-Klischee. Das invasive Licht der Leuchtreklamen ist zu einem fiktiven Sehnsuchtsort urbaner Ästhetik geworden.
von Benedikt Sylvester
Das Jahr ist 1982. Blade Runner feiert Premiere. Ridley Scotts Adaption des Philip K. Dick Romans Do Androids Dream of Electric Sheep? wurde seitdem vielen Genres zugeschrieben: Science-Fiction, Cyberpunk, Neo-Noir, die Liste ist fortlaufend und spielt letzten Endes dann doch gar keine Rolle. Wie kommen wir in einer Ausgabe zum Thema Werbung zu Blade Runner?
Blade Runners Vision eines im Jahr 2019 angesiedelten Los Angeles ist geprägt von einem leblosen Stadtbild, dem alles Natürliche schon lange ausgetrieben wurde. Sei es die vorahnungsvoll in den Nachthimmel ragende Pyramide der Tyrell Corporation, verfallene, fast barock wirkende Altbauten oder Deckards Verfolgungsjagd durch neongeflutete Gassen: Die Prophezeiung einer von Großkonzernen dominierten Zukunft auf einem zerstörten Planeten mag düster sein, dafür sieht sie umso ästhetischer aus.
Die cinematografische Abbildung einer dystopischen Großstadt bedient sich den Eindrücken des Neonbooms der 40er und 80er Jahre: Neon war en vogue, Leuchtreklamen prägten weltweit das Stadtbild moderner Metropolen. Von Los Angeles bis Hong Kong: Die grell scheinenden Werbetafeln tauchten die Nacht in so unnatürliche wie faszinierende Farben.
Mit Blade Runner wird diese Ästhetik der modernen Großstadt in einer fiktiven Zukunftsvision fortgesetzt – Science Fiction eben:
Removing this natural aspect of lighting is an important aesthetic choice made by Scott to depict the future so as to eliminate a natural humanity of the world we occupy and enclose it in a fully industrialized dystopia. Within its very own eternal daylight, this choice contributes to the question of artificiality in the future that Blade Runner treats
Quelle: velveteyes.net
Wem gehört die Stadt der Zukunft? Blade Runner zufolge den Großkonzernen, die ihre Propaganda in bunten Farben auf den Asphalt scheinen lassen. Die Warnung ist eindeutig und wird mitunter von der Bildästhetik transportiert, die heute so ikonisch ist. Neongeflutete Gassen in einer verregneten Nacht. Diese Bilder gehören zum Standardrepertoire kontemporärer Filme und Serien. Dieser cinematografische Einsatz von Neonlicht kann nicht exklusiv Ridley Scotts Film zugeschrieben werden. Dennoch ist diese Ästhetik immer wieder eine direkte Referenz zu Blade Runner – oder wird als Teil von dessen Vermächtnis verstanden. Gleichzeitig sind diese Bilder ein Stilelement, das sich von seinen Wurzeln in der kritischen Science-Fiction gelöst hat. Die visuelle Sprache hat mit den warnenden Inhalten ihres Ursprungs oft nichts mehr zu tun. Vom Bedeutungsträger ist das Motiv zu einer reinen Ästhetik geworden, einem gedankenleeren Eye-Candy.
The visual aesthetics of Blade Runner are timeless, and so predominant that they are today permanently implanted in our collective imagination. They’re so strong that they have influenced not only other science-fiction films and music videos but also video-games, architecture, set design, fashion, products, and advertising.
Quelle: velveteyes.net
In nahezu allen visuellen Medien hat sich ein Stil gebildet, der mit stark nachbearbeiteten Abbildungen neongefluteter Straßenzüge in die ästhetischen Fußstapfen von Blade Runner tritt – und der dabei sicher auch vom ikonischen Status des Films profitiert. Retro-Futurismus, Vaporwave, Tech Noir. Die mit diesem Stil assoziierten Genres und Subgenres sind so zahlreich wie irrelevant. Fotografen wie Xavier Portela und Liam Wong orientieren sich mit ihrer Arbeit am Vermächtnis von Blade Runner. Ihnen gelingt es, die cinematografische Essenz des Films in ihren Bildern festzuhalten. Und im Kino sieht man immer wieder Filme, die keine düsteren Zukunftsszenarien behandeln, aber die Neonästhetik als Bedeutungsträger nutzen. Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz ist dazu ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit.
Referenz und Interpretation sind elementare Bestandteile aller kreativen Prozesse. Blade Runners Ästhetik hat sich über die letzten knapp 40 Jahre verselbstständigt. Ridley Scott’s Neonlicht hat im Laufe der Zeit und infolge zahlloser Zitationen, Hommagen und Reiterationen seine warnende Aura verloren. Die Vision eines neongetränkten futuristischen Stadtbilds, das uns vor den Folgen eines haltlosen Kapitalismus warnt, ist zugunsten visueller Befriedigung in den Hintergrund gerückt. Sie ist zu einem unendlich oft wiederholten Stilelement geworden. Das Grauen einer von Großkonzernen beherrschten Zukunft wurde verdrängt vom hypnotisierenden Licht ihrer Werbetafeln. Der Konsum überstrahlt die Kritik. Das ikonische Blade Runner-Neonlicht ist zu einem fiktiven Sehnsuchtsort urbaner Ästhetik geworden.
Durchstöbert man Social Media Kanäle nach #BladeRunner, offenbart sich dieser Sehnsuchtsort in Form stark bearbeiteter Urlaubs- und Amateurfotografien, die sich auf Scotts Neonästhetik beziehen. Das primäre Motiv: nächtliche Großstadtfassaden, vorherrschend in Hong Kong, Tokyo und New York, gehüllt in das Licht der Werbetafeln. Die Farbkomposition, die sich auf das künstliche Blade Runner-Licht bezieht, kann natürlich auch über fotografische Kniffe erreicht werden. Sie ist nicht von der Anwesenheit der Werbetafeln abhängig. Die Reklamen sind aber stets ein tragendes Element dieser Bilder; eine bewusste oder unbewusste Referenz auf die Warnung, die Scotts Neonästhetik einst transportiert hat?
Und jetzt? Sind wir so an ein Stadtbild gewöhnt, das von blinkenden, zum Konsum treibenden Lichtern dominiert wird, dass wir diese Realität gar nicht mehr hinterfragen? Realität und Fiktion geben sich die Hand: vom Los Angeles der 1980er zu Blade Runner, vom abgegriffenen Stilmittel zur Projektion auf das eigene Umfeld. Die Angst vor seelenloser Urbanität ist verflogen und hat sich gewandelt in die Sehnsucht nach einem Ort, den es niemals gab, an dem niemand wirklich leben will, der aber verdammt gut aussieht.
Die Leute hinter der Initiative Berlin Werbefrei wollen das Stadtbild der Hauptstadt nicht kampflos den Werbetreibenden überlassen. Unser Interview mit den Menschen, die sich für einen Volksentscheid zur „Regulierung von Werbung in öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum“ einsetzen, findet ihr hier.
Wenn euch das Thema „Neon“ gefällt, solltet ihr euch auf jeden Fall NEONSIGNS.HK ansehen. Die interaktive Online-Ausstellung führt ihr Publikum durch die Geschichte des Neons in Hong Kong und bietet mit Essays, Fotografien und Videos mehr Content rund um die visuelle Kultur des Neons, als man für möglich halten würde.