von Josefina Trittel
Wenn eine Insel durch ihre Position des Dazwischenseins definiert wird, dann erfüllt die Inselstraße im Herzen Berlins diese Voraussetzung voll und ganz.
Es könnte sogar von einer einsamen Insel die Rede sein, denn nicht einmal geborene oder langjährige Berliner:innen kennen sie oder können sie verorten. Soll ich ihre Lage beschreiben, so antworte ich, sie liegt zwischen U2 und U8, den Stationen Märkisches Museum und Heinrich-Heine-Straße auf der Grenze von Mitte zu Kreuzberg. Je nach Gegenüber füge ich hinzu: direkt beim Kitkat Club. Einige entsinnen sich dann – ach DIE Ecke, irgendwie bekannt, aber was ist da eigentlich? Unscheinbar und doch interessant. Und zwar aus folgenden zwei Gründen, die eine gute Insel ausmachen. Erstens, man kann dort seine Ruhe haben und ist abgeschieden vom Rest des Geschehens. Zweitens, man ist gleichzeitig auch schnell wieder runter von ihr, um sich ins Getümmel der Wellen zu stürzen, in dieser Analogie also in die Großstadt. Denn in nicht einmal fünf Minuten lassen sich mit dem Fahrrad Alexanderplatz, Humboldt Forum oder Kotti erreichen.
Natürlich gibt es auch einen Grund für diesen ungewöhnlichen Straßennamen. Er ist der Tatsache geschuldet, dass die Spree an ihrem Ende die Fischerinsel umrundet und der Historische Hafen mit seinen alten Kähnen und Masten einen regelrechten Küstencharme erzeugt. Sogar Fischbrötchen gibt es! Ein schöner Ausflug in eine völlig andere Sphäre, und ich muss dafür eigentlich nur meine Straße hinunter gehen. Mache ich dann doch viel zu selten, das Fischbrötchen mit Berliner Weiße dazu bestellen.

Wieso erfreut sich die Straße nicht einer größeren Beliebtheit? Tagsüber muss sie als stressige Durchfahrtsschneise starkem Pendlerverkehr und touristischen Schulklassen standhalten, abends und am Wochenende könnte sie als kleinstädtische Spielstraße durchgehen, so wenig ist los. Dass Mietenwahnsinn
und Gentrifizierung auch hier nicht halt machen, zeigt ein Blick auf Immoscout, wo 100 qm-Wohnungen für 3000 Euro kalt angeboten werden. Diese nennen sich „luxuriöse city apartments“, wirken auf den Bildern im Internet aber eher trist und austauschbar, statt
exklusiv und individuell. Irgendwer wird bereit und in der Lage sein, solche Preise zu zahlen, sonst würden Wohnungsblocks dieser Art nicht in kürzester Zeit überall in Mitte aus dem Boden sprießen und offensichtlich von irgendwem bewohnt werden, überlege ich beim Vorbeigehen an diesen deplatzierten Ungetümen.
Oft sind Inseln Ziele politischer Interessen, und so weist auch hier die Pflasterstein-Kette am Boden in unmittelbarer Nähe auf die Mauer und deutsch-deutsche Grenze hin, die über vier Jahrzehnte die Nachbarschaft zerschnitt. Außerdem weht ein politisch internationaler Hauch aus den Fenstern der Botschaften von Brasilien, China, Nigeria und Australien, die fernab des Tiergartens seit Jahrzehnten in dieser Gegend residieren.
Und was lässt sich hier unternehmen? Neben dem Köllnischen Park und dem darin liegenden Märkischen Museum, lädt auch die Inselstraße durchaus zum Verweilen ein.
Bei „Suppengrün“ sorgen seit 2002 wöchentlich wechselnde Suppen und Salate täglich für lange Schlangen um die Mittagszeit, und das Inhaber-Ehepaar hat immer einige Geschichten über die letzten zwanzig Jahre der Inselstraße zu erzählen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt „Isla“, der erste „inclusive und female owned“ Streetwear-Laden und Nagelstudio Space in einem. Er scheint mit dem lässig-verheißungsvollen Namen viele Millenials und Gen-Zs anzulocken, denn die Termine für ausgefallene Nageldesigns sind fast immer ausgebucht und die Popup-DJ-Sessions rappelvoll.
Definitiv unterschätzten Kultstatus hat das 1995 eröffnete „Café Re“ direkt an der Brücke, das auf seiner Website den schönsten
Ausblick an der Spree verspricht. Auf der Karte stehen Toast Hawai neben Schweden-Eisbecher und Gulaschsuppe und an den Tischen an der Hafenmauer treffen Anwohner:innen der Fischerinsel-Türme zum Stammtisch zusammen. Es lässt sich also in verschiedene Soziotope und Lifestyles eintauchen, und das ist hier gerade das Schöne. Läden, Leute und Lokale ziehen sehr unterschiedliche Menschen an und unterscheiden sich vielleicht vor allem darin von immer einheitlicher werdenden Vierteln.
Nun drängt sich mir die Frage auf – führen wir in Wahrheit alle eine geheime Liebesbeziehung mit unserer Straße und haben daher einen rosarot gefärbten Blick? Wahrscheinlich. Irgendwie müssen wir uns ja identifizieren, wenn die Großstadt sich der Anonymität verschrieben hat. Und doch – auch ich würde für mich behaupten, in einer besonderen Straße Berlins zu leben. Wenn ich morgens beim Aufwachen Möwengeschrei im Innenhof höre und abends der Fernsehturm durch die an den Schiffsmasten befestigten Lichterketten blinkt, dann bin ich gerne und glückliche Insulanerin.