Ich bin nicht das Meer

von Carla Magnanimo
Fotos: Nina Weimer

Ich bin eine Insel, nein, ich habe eine Insel, ich habe eine Insel in mir, ist das richtig, stimmt das so? Ich bin mir gar nicht so sicher, aber so fühlt es sich an. Ganz weit hinten, in mir, über meinem Magen, neben meinen Lungen, in dieser Gegend des Körpers, die niemand so richtig bestimmen kann, auf die man wortlos mit dem Finger zeigt, wenn man meint, etwas tief in sich zu spüren. Dort, wohin man sich verkriechen will, wenn man sich wie eine kleine Amöbe, ein kleines Fossil, zusammenrollt, auf der Suche nach etwas, was man doch nicht finden kann, einfach weil es so tief in einem drin steckt. 

Dort ist meine Insel. Meine Insel ist aus Sand gebaut und liegt, nein, sie schwimmt auf dem Meer. Zumindest existiert sie auf einer viel zu weiten, viel zu blauen Fläche, mit kleinen weißen Schaumkrönchen, die wie kleines hartes, zuckriges Eiweiß beim Konditor hin und her wippen.

© Nina Weimer

Ich schwimme, nein ich treibe, in diesem kalten, blauen Meer, werde hin und her geworfen von den Wellen, werde runtergezogen, ausgespuckt und weiter getrieben. Manchmal lässt das Meer mich in die Nähe meiner Insel, schwemmt mich beinahe so nahe ans Ufer, dass ich schon den alles erstickenden Sand riechen kann. Nur um mich dann wieder mit einem kleinen hämischen Plätschern in die Tiefe zurückzuziehen.

Meine Insel hat Sand, heißen, safrangelben Sand, der einem durch die Hände rinnt und kleine Brandblasen auf der zarten Haut zwischen zwei Fingern hinterlässt. Sand so gelb und heiß, dass er an frisch gekochte Polenta erinnert, üppig und schon durch bloßes Hinsehen sättigend. Der Sand auf meiner Insel verbrennt dir die Füße, wenn du nicht schnell genug in den Schatten rennst und trotzdem probiere ich es gerne immer wieder, bleibe stehen so lange ich kann, bis die Sohlen meiner Füße anfangen zu brennen und ich panisch in den Schatten hechten muss. Dort bleibe ich sitzen, puste auf meine Fußsohlen und frage mich laut, wie ich diesen Schmerz immer wieder aufs Neue vergessen kann. Und dabei heimlich lächle, denn mich kann ohnehin niemand hören oder sehen.

Schatten gibt es auf meiner Insel. Er wird gespendet von einer Palme, die in der Mitte wächst, stoisch und langsam, denn sie lässt sich nicht hetzen, diese Palme. Ihre grünen, weiten Blätter wehen träge im Wind, wie die Hutkrempe einer alten Dame, hoch und runter bewegen sie sich, von einer Melodie bestimmt, die niemand hören, man aber als Luftzug auf der Haut spüren kann. Meine Palme erscheint mir mal größer und mal kleiner, als wäre sie ein pumpendes Organ, welches sich zusammenzieht und wieder ausdehnt. Manchmal beobachte ich sie stumm staunend, wie sie leicht in der Luft pulsiert, mit zitterndem Schatten.

Als ich das erste Mal auf meiner Insel ankam, konnte ich mich kaum mehr bewegen. An Land gespuckt hatte mich das Meer, mit seinen muskulösen Wellen, als würde ich nichts wiegen, als wäre ich ein kleines Nichts, existierend aus Nichts und bestehend aus Nichts. Manchmal glaube ich, das Meer hatte nicht einmal gemerkt, dass ich all die Zeit in ihm verbracht habe, mal zusammengerollt wie ein kleiner Fötus, ein anderes Mal mit ausgestreckten Gliedern, wild um mich schlagend. Wenn ich weder wusste, wo oben noch unten war, denn wenn das Meer es einmal geschafft hatte, dich zu verschlingen, ja wie zum Teufel sollte man da wieder rauskommen? Alles um dich herum hat dieselbe Farbe, dieselbe Konsistenz, du kannst das eine nicht vom anderen unterscheiden. Am Anfang bin ich noch geschwommen. Ich hatte Vertrauen ins Meer. Dachte, ich würde ankommen, irgendwo. Bis ich das erste Mal unter die Oberfläche gesaugt wurde, weggerissen von einem Sog, den ich nicht hatte kommen sehen. Wie dumm von dir, dachte ich in dem Moment, als auch der letzte Zentimeter meines Gesichts unter Wasser gezogen wurde. Stille umgab mich. Wie dumm, dass du dich nicht darauf vorbereitet hast. 

Ich verbrachte lange Zeit so. Wenn ich unter Wasser war, drückte mir die Stille auf die Ohren und meine Gedanken waren lauter als alles andere. Es war, als würden sich die Gedanken in meinem Kopf in einer Reihe aufstellen, kleine hässliche Gestalten, um nach und nach an meinem inneren Auge vorbei zu laufen, mit hämischen Grinsen, in ihren Händen eine Erinnerung, die ich einmal tief vergraben hatte und von der ich mir geschworen hatte, sie auch dort zu lassen. Meine Gedanken-Gestalten schenkten mir diese Erinnerungen wie Gaben, die einer verhassten Königin vor die Füße gelegt wurden und ich konnte nicht umhin, sie anzuschauen und für wenige Sekunden wieder dieselbe Scham zu spüren, dasselbe Kratzen am Herz und im Hals, dasselbe Bedürfnis mich in mir selbst zu verkriechen. 

Manchmal spuckte mich das Meer aus Spaß wieder aus, ließ mich frei, gab mir einen Moment den Atem zurück. Dann ließ ich mich treiben, breitete mich auf der Oberfläche aus, streckte alle Glieder von mir und ließ mich spüren, wie die Sonne mein Gesicht verbrannte. Und ich wusste, ich hatte nicht lang. Ich wusste, es würde wieder passieren. Ich versuchte Anzeichen zu finden, um es vorauszusagen, vorbereitet zu sein, eine Veränderung in der Bewegung der Wellen, in der Temperatur, ich war versessen darauf, das Meer zu überlisten, denn wer schlauer als das Meer ist, ist allen anderen Dingen überlegen, ja, ist grade zu gottgleich. Oder nicht?

Natürlich war ich nicht schlauer. Nichts ist schlauer als das Meer. 

Also trieb ich, schwamm ich, nein, ich kämpfte, versuchte Wellen abzuschütteln, wurde schwer wie ein Stein, verschwand, versank in diesem stummen Blau, was eigentlich durchsichtig war, aber auch das war eigentlich egal, denn wen interessiert es, in welcher Farbe man versinkt, wenn man sich nicht mehr bewegen kann, man nicht mehr sehen kann und alles nach Salz schmeckt, welches dich von innen verklebt?

Ich weiß nicht mehr, wie ich das erste Mal auf meiner Insel ankam. Ich weiß, dass es ein Moment war, in dem ich mit dem Gesicht durchs Wasser stieß, auf der Suche nach Luft und Geräuschen, nach dem Gefühl von Wind auf meiner Haut. Und da blitzte ein gelber Streifen auf. Zunächst war ich sicher, dass es eine Einbildung wäre, vielleicht eine merkwürdige Reflektion der Sonne auf dem Wasser. Aber dann erschien es ein zweites Mal. Und da wusste ich, jetzt würde es besser werden. Sobald ich es schaffen würde dort anzukommen, würde es besser werden, denn dort konnte mir das Meer nichts mehr anhaben.

© Nina Weimer

Dort anzukommen war eine andere Sache. Das Meer kämpfte um mich. Ich war beinahe gerührt. Bis mir wieder einfiel, dass es mit Sicherheit keine edlen Absichten hatte. Das Meer war wie ein verkommener Ehemann, der seine Frau jahrelang verprügelte und dann anfing zu weinen und zu betteln, wenn sie anfing ihre Koffer zu packen. 

Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, sie war bereits vor langer Zeit in den Fluten des Meeres untergetaucht, mich stumm und traurig anstarrend, bis sie, vollkommen in blau gehüllt, nicht mehr zu sehen war. Ich bewegte meine Arme, ohne Kraft und Willen, einfach nur, um am Ende das Gefühl zu haben, etwas getan zu haben, um mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. 

Ich schloss die Augen. Ließ mich treiben, bereit zu sinken, bereit für das Gefühl von einerseits Schwerelosigkeit und andererseits Panik vor der Dunkelheit um mich herum. Doch das, was ich unter mir spürte, war nicht die Unendlichkeit. Da war nicht nur das Nichts. Ich spürte Untergrund. Wie konnte das sein? Ich riss die Augen wieder auf, gerade rechtzeitig, um die weißen Schaumkronen zu sehen, die mein Gesicht umspülten, ich hörte das Rauschen von Wellen, die auf Widerstand schlugen, die mit einem leisen Schmatzen im Sand versickerten. Ich spürte Sand. Unter mir, an meinen Beinen klebend. Kratzig, warm und feucht. Mein Körper reagierte noch vor meinem Kopf und meine Hände krallten sich in den Boden, zogen mich weiter nach oben, weg von den Wellen, weg von der Nässe, weg vom Meer, was mich so lange gefangen hielt und mich nun auf wundersame Weise losgelassen hatte, vielleicht ohne es recht zu bemerken. 

Ich erhob mich zitternd. Meine Füße versanken im nassen Sand. Vor mir erstreckte sich ein Strand, glatt und unberührt, als wäre ich das erste lebendige Wesen, welches diesen Ort betreten würde. In naher Ferne sah ich die Palmblätter im Wind, die mich sanft heranwinkten und ich setzte einen Fuß vor den anderen, der heiße Sand zischte unter mir, trieb mich schneller voran, ließ mich laufen, bis an den Rand des Schattens, bis ich den Stamm der Palme sehen konnte und der kleine Platz, direkt daneben, der wirkte als wäre er einzig für mich geschaffen worden, einzig zu meiner Ruhe und zum Luft holen, zum Niederlassen und Verweilen. Ich fiel zunächst auf die Knie, rollte mich dann auf die Seite, atmete ein und aus, ließ die Luft ein und ausströmen und spürte die veränderte Umgebung um mich herum. Keine Kräfte, die mich willenlos herumwarfen, keine Heimtücke, keine Hinterlistigkeit. Nichts ist so ehrlich wie Sand. 

Noch immer ruft das Meer nach mir. Manchmal sitze ich auf meiner Insel, unter meiner Palme im Schatten und lasse den Sand durch meine Finger rinnen. Der Wind trägt mir das Geraune des Meeres zu, lässt mich teilhaben an seinen Intrigen und ich sitze hier und weiß: ich gehe nirgendwohin. 

Ich bin eine Insel, ein kleiner Haufen Sand und eine Palme, die mir Schatten spendet, die immer weiter wächst und ihre Blätter wie eine Decke über mir ausbreitet. 

Ich bin eine Insel auf der ich Zuflucht finde vor dem, was da draußen auf mich lauert, vor dem, was versucht mich zu finden und mich zu zerreißen droht. 

Ich bin eine Insel und das Meer dort draußen kann mir nichts mehr anhaben.