von Max Schmidt
Was haben ein Musikpirat, Hemingways Bruder und LGBTQ+- Aktivist:innen gemeinsam?
Richtig, sie gründeten eine Mikronation.
Mikronationen sind von Personen ausgerufene Staaten, die meist nicht alle Voraussetzungen des Völkerrechts erfüllen, um als Staat anerkannt zu werden. In den allermeisten Fällen werden sie das auch nicht, allerhöchsten werden sie von anderen Staaten geduldet. Die folgenden drei Mikronationen wurden, mehr oder weniger, auf Inseln gegründet. Falls ihr schon immer mal eure eigene Nation ausrufen wolltet, findet ihr bei den folgenden drei Beispielen bestimmt etwas Inspiration.
Radio Star almost killed the Radio Star
Anfang der 2000er waren illegale Musikdownloads der heiße Scheiß! Auf MP3.com, Napster.com oder cannapower.co (mein 13- jähriges Ich schwörte darauf –) konnte man sich bequem Songs herunterladen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Ebenso gab es die Möglichkeit, Songs hochzuladen und für Andere zur Verfügung zu stellen. Klassisches Filesharing.
Hatte jene Musikpiraterie wenig mit Nautik zu tun, sah das in den 1960ern noch ganz anders aus: um dem Monopol der BBC etwas entgegenzusetzen und einen privaten Radiosender zu betreiben, kauften einige Radiostationen Schiffe. Mit denen fuhren sie drei Meilen vor die britische Küste, um dem Lizenzverbot zu entgehen und eigene Musik senden zu können. Der bekannteste Radiosender war Radio Caroline, dessen Geschichte als Vorlage für den Film Radio Rock Revolution diente. Einige Piratensender besetzten (zusätzlich) alte Militärfestungen auf hoher See und bauten jene zu Radiostationen um.
Selbiges hatte Patrick Roy Bates, ein Ex- Major und Geschäftsmann, vor. Die ehemalige Seefestung der britischen Navy Rough Towers nutzte Radio Caroline als Radiostation. Roy Bates vertrieb die Besatzung und anstatt seinen eigenen Radiosender zu gründen (zwei Jahre zuvor kaperte er die Knock John Towers von denen Radio City sendete und gründete seinen Radiosender Radio Essex), rief er den neuen, eigenständigen Staat „Fürstentum Sealand“ aus.
Nachdem Ronan O’Rahilly, Besitzer von Radio Caroline, von der Übernahme erfuhr, schickte er ein paar Männer zu den Roughs Tower, um diese zurückzuerobern. Der selbsternannte Fürst Roy von Sealand wusste sich mit Waffengewalt und
Molotowcocktails zu wehren. Mit Erfolg.
Selbst die Royal Navy konnte den Fürsten und seine Familie nicht von der Festung vertreiben, da dieser sich erneut mit Schüssen zur Wehr setzte.
Man versuchte ihn wegen dieser Vorkommnisse anzuklagen, allerdings sah sich das örtliche Gericht nicht dafür zuständig, da die Taten auf internationalen Gewässern begangen wurden. Diese richterliche Entscheidung sah Bates selbstverständlich als Bestätigung dafür, dass er nicht zu Großbritannien gehörte und sein eigener Staat legitim sei.
Putsch me if you can
Wie bei jeder seriösen Regierung gab es auch hier einen Putschversuch. 1975 freundete sich Alexander Gottfried Achenbach, Geschäftsmann & Wirtschaftswissenschaftler, mit Bates an, um ein Luxushotel mit einem integriertem Spielkasino auf der ehemaligen Seefestung zu bauen. Relativ zügig konnte der deutsche Achenbach das Vertrauen des Fürsten ergattern und wurde letztlich von ihm zum Premierminister und Regierungschef auf Lebenszeit ernannt. Als der Fürst für einige Tage in Salzburg war, übernahm Achenbach das Kommando und nahm den Sohn des Fürsten als Geisel. In feinster Bates-Manier schickte er bewaffnete Männer und sogar einen Hubschrauber, um sein Fürstentum zurückzuerobern. Dabei nahm er Achenbach und seine niederländischen Geschäftspartner als Kriegsgefangene. Mit Verweis auf die Genfer Konventionen ließ Bates die niederländischen Gefangenen frei, behielt aber Achenbach, da dieser Bürger von Sealand war. Daraufhin schickte die deutsche Botschaft einen Beamten nach Sealand, um dessen Freilassung zu verhandeln. Auch diese Vorgehensweise sah Bates natürlich als Anerkennung seines Staates an.
1999 musste “Paddy” Roy Bates aus gesundheitlichen Gründen sein geliebtes Fürstentum verlassen und zog zurück aufs englische Festland. Damit gab es, bis auf einen noch heute dort lebenden Wachmann, keine Bevölkerung mehr auf Sealand (diese bestand sowieso lediglich aus seiner Familie und ein paar Freunden, nie lebten mehr als zehn Personen auf der Festung).
2012 verstarb Patrick Roy Bates in Spanien.
Also als Tipp für Euch: Staat ausrufen, jemanden als Gefangenen halten, mit der zuständigen Botschaft des Gefangenen verhandeln und schwuppdiwupp – „anerkannter“ Staat sein.
Falls ihr selbst den Drang verspürt, Bürger:in von Sealand werden zu wollen (oder gar Baron:in), könnt ihr Euch auf der Website des Fürstentums neben der Staatsangehörigkeit auch ein Stück „Land“ kaufen.
The old men and the sea
Was macht man, wenn nicht zufällig vor der Küste eine alte Militärseefestung zur Verfügung steht?
Vor diesem Problem stand auch Leicester Hemingway. Hemingway? Steht der etwa in Verbindung mit dem Schriftsteller Ernest Hemingway, dessen Klassiker Du nie gelesen hast, aber darüber sprechen kannst? Goldrichtig, denn Leicester ist sein Bruder.
Wie bereits erwähnt, hatte Leicester keine alte Militärfestung zur Verfügung und leider auch keine unbewohnte Insel, auf der er seinen Staat hätte ausrufen können. Für Hemingway kein Problem, er baute vor den jamaikanischen Inseln ein 30m² großes Floß und rief standesgemäß am amerikanischen Unabhängigkeitstag 1964 seine „Republic of New Atlantis“ aus.

New Atlantis, same old shit
Seine „Republic of New Atlantis“ war allerdings nur 15m² groß, also nur die Hälfte des Floßes. Grund dafür war ein Vogelschiss in der New Atlantis-Geschichte. Damit ist keine geschmacklose Verharmlosung der Shoah à la Alexander Gauland gemeint, sondern tatsächliche Vogelexkremente. Laut dem Guano Island Act der USA, ein Gesetz aus dem 19. Jahrhundert, gehört jede unbewohnte Insel, die ein:e amerikanische:r Staatsbürger:in entdeckt, automatisch den Vereinigten Staaten, sofern sich Vogelkot von bestimmten Vögeln auf jener Insel finden lässt.
So wurden die nördlichen 15m² seines Floßes zu amerikanischem Boden, die südlichen zu New Atlantis.
Seine Frau, seine zwei Kinder, ein ehemaliger CIA-Agent und die Tochter eines Mafiabosses (alles Freunde von Leicester) waren die einzigen Bewohner:innen von New Atlantis. Für ganze zwei Jahre. 1966 zog ein Sturm auf und, naja, wie sollte es auch anders sein, New Atlantis hielt an der atlantischen Tradition fest und ging unter. Sein jüngerer Bruder Ernest würde wohl dazu sagen: „Das Meer ist süß und schön, aber es kann auch grausam sein“.
Falls Euch die Idee mit dem selbstgebauten Floss als neuer Staat gefällt, solltet Ihr Euch über das Seastading-Projekt informieren. Peter Thiel, ein Mitbegründer von PayPal, versucht seit längerer Zeit eine Art Silicon Valley-Nation auf schwimmenden Plattformen zu gründen. Der feuchte Traum der Neoliberalen.
Eine Insel mit gleichgeschlechtlicher Ehe: Queere Souveränität, König Edward II und Gloria Gaynor
Scheinen Bates und Hemingway doch eher durch ihr Ego angetrieben, gibt es auch noch Menschen, die aus der politischen Motivation heraus eine Mikronation gründeten.
Matthew Briggs, Dale Parker Anderson und andere Aktivist:innen hatten während der Brisbane Gay and Lesbian Pride Festivals 2003 die Idee, auf das australische Gesetz, welches die gleichgeschlechtliche Ehe von ausländischen Menschen in Australien verbot, mit der Gründung eines neuen Staates zu antworten.
Die Aktivist:innen kauften sich ein Schiff, tauften es Gayflower (in Anlehnung an die Mayflower, mit der die „Pilgerväter“ von England nach Amerika aufbrachen), fuhren zu den unbewohnten Korallenmeerinseln vor der Küste Australiens und hissten am 14. Juni 2004 die Pride-Flag am höchsten Punkt der Korallenmeerinseln. König Dale Parker Anderson rief die „Gay & Lesbian Kingdom of the Coral Sea Islands“ mit den Worten „On the 14th day of June 2004, at this highest point in the Coral Sea, Emperor Dale Parker Anderson raised the gay rainbow flag and claimed the islands of the Coral Sea in his name as homeland for the gay and lesbian peoples of the world. God Save our King! “ aus. Es ist kein Zufall, dass Dale Parker Anderson sich selbst als König bezeichnete, da er, laut eigener Aussage, ein Nachkomme des schwulen Königs Edward II sein soll.
Heaven on Earth
Ein kleines Lager diente als Hauptstadt des Gay & Lesbian Kingdom of the Coral Sea Islands. Benannt wurde sie nach dem berühmten Szeneclub „Heaven“ in England. Die Flagge war (selbstredend) die Pride-Flag, „I am what I am“ von Gloria Gaynor die Nationalhymne.
Inspiriert vom israelischen Rückkehrgesetz, hatte jede LGBTQ- Person das Recht auf die Staatsangehörigkeit und dauerhaftes Wohnrecht.
Quelle: https://www.stampboards.com/viewtopic.php?t=69969
Tourismus, Fischfang und der Verkauf von Briefmarken sorgten für eine breit aufgestellte, starke Wirtschaft. So friedlich diese Nation auch klingen mag, ganz ohne Krieg ging es dann doch nicht: Im September 2004 erklärten sie Australien offiziell den Krieg.
Die “Marriage-Equality-Campaign” rief Ende 2016 die australischen Bürger:innen dazu auf, bei einer Umfrage zur gleichgeschlechtlichen Ehe mit “Ja” zu stimmen. Die Website des Königreichs bewarb diese Kampagne, welche positiv verlief und die Regierung zum Umdenken anregte. Als am 17. November 2017 alle gleichgeschlechtlichen Ehen in Australien legalisiert wurden, verlor das Königreich mit drei Quadratkilometern Landfläche für die Gründer:innen an Bedeutung und sie lösten es offiziell auf.
Heute befindet sich eine Wetterstation auf den Korallenmeerinseln mit einer maximalen Besatzung von vier Leuten.
Welchen praktischen Tipp könnt ihr aus dieser Anekdote mitnehmen?
Ganz einfach: Sollte das Zeigen und Schwenken der Pride-Flag als „politischer Aktivismus“, statt als Zeichen für Menschenrechte interpretiert werden (von europäischen Diktatoren bei Großsportevents zum Beispiel), könnt ihr darauf verweisen, dass es sich lediglich um die Nationalflagge von „Gay & Lesbian Kingdom of the Coral Sea Islands“ handeln würde.
Wir fassen zusammen: eine Insel besetzen und dort Euren eigenen Staat ausrufen, reicht nicht aus, um als souveräner Staat anerkannt zu werden. Auf einem Floß oder einer alten Militärfestung scheint dieses Vorhaben genauso aussichtslos. Aber hey, es geht schließlich nicht darum, was die anderen über Euch denken: Bates, Hemingway und Parker Anderson waren offiziell keine Fürsten/ Könige, haben sich aber bestimmt so gefühlt. Wenn Ihr Euch auch so fühlen wollt, dann haltet auf den Meeren ausschau nach einer freien Insel (oder verlassener Öl- Plattform, da könnten bald welche frei werden) und gründet Eure eigene Mikronation.