von Friedrich Riemann
Hinter den Dünen des Rügener Sandstrandes steht ein Junge, der genauso aussieht wie ich. Ungefähr 10 Jahre alt, strohblonder Topfschnitt, braungebrannte Haut, kurze Hose, Sandaletten. Er ruft: „Eine Mark Fuffzich? Dit is ja hier langsam wie uff Sylt!“, offensichtlich empört über die Eiskugelpreise, die seine Eltern neuerdings bezahlen müssen. Wenn wir später mal unsere eigene Insel haben, da sind wir uns sicher, wird das Eis billiger sein, es ist alles erlaubt und wir werden nur unsere gemeinsamen Freunde auf unsere Insel lassen. Die Begeisterung der Rügener darüber, was zwei großfressige Berliner Jungs mit ihrer Insel vorhätten, hält sich dabei sicher in Grenzen.
Der Traum vom eigenen Haufen Sand im türkisenen Meer, mit einer Kokospalme in der Mitte könnte kaum naiver sein und doch bleibt er zentraler Bestandteil einer Eroberungs- und Besitzmentalität, die die Mächtigsten dieser Welt bis heute prägt. Eine solche Insel ist ein Ort, an dem nur die eigenen Regeln gelten, ein exklusiver Club nur für geladene Gäste und leicht zu verteidigen gegen ungeliebte Eindringlinge. So weit, so gut, aber wer serviert nach der Eroberung den Gin and Tonic, wenn man seinen englischen Tropenhelm abgesetzt hat? Wer arbeitet auf der Plantage in Deutsch-Samoa? Wer baut in Haiti den Zucker für Napoleons Kaffee an? Wer massiert einem den Rücken? Es kommt die erbarmungslose Eigenschaft einer Insel ins Spiel, die Alcatraz zum wohl berühmtesten Gefängnis der Welt gemacht hat: Man kann ihr nur schwer entkommen. So eignen sich Inseln in den Händen von mächtigen Verbrechern für alle möglichen Straftaten, ohne Angst, dass ihre Opfer entkommen könnten und unbehelligt vom Rest der Welt. Heute wissen wir, dass die wenigen versklavten Menschen, die überhaupt ihr Ziel, beispielsweise in Haiti, lebendig erreichten, nur wenige Jahre unter der Herrschaft der Plantagenbesitzer überlebten. Sie wurden zu Tode gearbeitet, unterernährt und gefoltert, während der Rest der Welt schlief. Heute wissen wir auch, dass Jeffrey Epstein dutzende minderjährige Mädchen auf seine private Insel entführt hat, um sie unfassbaren Dingen auszusetzen, teilweise in der Anwesenheit einiger der mächtigsten Männer der Welt. Damals passierte alles fernab neugieriger Augen, auf einer kleinen Insel, auf der eigene Regeln galten und von der es kein Entkommen gab.
Egal ob Atombombentests auf den Inseln des Bikini-Atolls, Margaret Thatchers Krieg um die völlig öden Falkland-Inseln, Steueroasen in Karibik und Ärmelkanal, komplett sinnlose, künstliche Inseln vor Dubais Küste oder die Verdrängung der Einwohner Sylts durch Gentrifizierung, Inseln sind häufig die Spielwiese für Reiche und Mächtige, die Besitzer dieser Welt und ganze Imperien. Nichts spiegelt die naive Sicht eines bockigen 10-Jährigen so wider, wie das „haben wollen“ derjenigen, die eigentlich schon längst alles haben. Ein Eis, eine Rakete, eine Insel, einen Menschen? Was kostet die Welt? Auf der eigenen Insel gelten die eigenen Regeln.
Wenn man dann aber mit dem Verstand eines 10-Jährigen ausgestattet, plötzlich einer Sklavenrevolte gegenübersteht, so wie die Plantagenbesitzer Haitis 1791? Wenn man für seine Verbrechen ins Wasser getrieben wird und nicht schwimmen kann? Dann gelten die gleichen Naturgesetze einer Insel und nicht die ausgedachten Regeln.
Wie ungemütlich eine tropische Insel auf einmal werden kann, merkten auch die Anhänger des Diktators und Bundesverdienstkreuzträgers Fulgencio Batista in Kuba. Die sehr späte Abschaffung der Sklaverei 1886 hatte nie die erhoffte Freiheit gebracht und bald dank der Einmischung der USA zu weiterer Plantagenwirtschaft, Armut und Unterdrückung geführt. Die Mörder des Geheimdienstes, die Mafiosi und Zuhälter, die Plantagenbesitzer und Hoteliers lernten 1958 auf einmal, dass ihr exklusiver Club nicht mehr existierte. Das Paradies, aufgebaut auf dem Rücken von Sklaven gehörte ihnen nicht mehr und es blieb nur noch das Wasser. Bis heute sind sie und ihre Nachfahren deshalb bockig wie Kinder. Man hatte ihnen ihr Spielzeug weggenommen, sie sabotieren und intervenieren und heulen deshalb laut, aus Trotz und Habgier und weil sie nicht mehr ihre eigne Insel mit den eigenen Regeln haben. Sie besitzen nicht mehr, was sie nie hätten besitzen dürfen.
August 2005, Ausläufer von Hurrikan Katrina ziehen an der Nordküste Haitis vorbei und hinterlassen Regenfälle und eine aufgewühlte karibische See. Später würde der Sturm New Orleans verwüsten und die US-Regierung unter George W. Bush würde Hilfsmaßnahmen und Wiederaufbau auf kriminelle Weise hinauszögern, weil die überwiegend schwarze Bevölkerung ihn nicht wählen wollte. New Orleans hatte nach der Sklavenrevolte in Haiti um 1800 viele tausend Geflüchtete aufgenommen. Die USA sind immer noch sauer, dass die lukrative Sklaverei direkt vor ihrer Haustür durch die haitianische Revolution zu Ende ging. Ich bin auf dem Weg von Santo Domingo in der Dominikanischen Republik, nach Norden und komme ein Stück an Haiti vorbei. Auf den Feldern stehen Männer im knöcheltiefen Matsch und ernten Rohrzucker mit Macheten. Es sieht anstrengend aus. Wie Plantagenarbeit. Aus dem Rohrzucker wird vor Ort Pepsi hergestellt. „Die mit Abstand beste Cola auf der Welt“ hatte ein Einheimischer gesagt. Er hatte recht.
Es ist 2007, ich bin auf einer winzigen Insel im Indischen Ozean. Eine Umrundung der Insel dauert in Flip Flops ca. 10 Minuten. Vor den Palmen beginnt der weiße Strand, dann kommt das türkisblaue Meer. Darin tummeln sich bunte Fische zwischen Korallen, es sieht aus wie im Aquarium. Ein Traum. Schwimmt man jedoch weiter raus, fällt das Riff steil ab und das Wasser wird tiefblau bis schwarz. Der Boden ist schlagartig nicht mehr zu erkennen. Statt der bunten Fische sieht man in der Tiefe diffuse dunkle Schatten von vielen sehr großen Meeresbewohnern. Eines Abends bricht ein Sturm herein. Der Tsunami von 2004 ist noch nicht lange her, einige Nachbarinseln gibt es seitdem nicht mehr. Plötzlich wird aus dem tropischen Paradies eine Nussschale und das nächste Festland ist genauso unerreichbar wie der Mond. Der Traum von einer einsamen Insel, fernab von jeglicher vertrauten Umgebung wird zum Albtraum, der Name Vineta schwirrt im Kopf herum und man wünscht sich plötzlich die flache Ostsee mit ihren kleinen drögen Fischen zurück. Eine Flunder statt einem Hai, ein Aal statt einer Moräne und eine Ohrenqualle anstelle eines Rochens. Dann würde man einfach über die Dünen gehen, dorthin wo das breite, flache Land anfängt, wo Berliner, Sachsen und Schwaben den Einheimischen auf den Sack gehen und eine Kugel Eis „einzfuffzich“ kostet.