BOYKOTTIERT DEN WELTUNTERGANG

„Boykottiert die halt“, hieß es in einer Diskussionsrunde zwischen Studierenden und Expert:innen der Medien- und Werbebranche, organisiert im Rahmen einer Uni-Veranstaltung. Ja, wenn das denn so einfach wäre! Wer hat denn nun die Verantwortung? Konsumierende oder Unternehmen oder diejenigen, die Werbung für diese Unternehmen machen? Alles auf jeden Fall ein bisschen Aufregung wert, denn in erster Linie geht es um Täuschung.

von Carla Magnanimo

Neulich, in einer Online-Veranstaltung der Uni Potsdam, wurde unter Studierenden und Expert:innen der Werbebranche über die soziale Verantwortung von Werbetreibenden und Unternehmen diskutiert. Eine dieser Studierenden war ich. Was zu Beginn noch wie eine eher entspannte Unterhaltung ablief, entwickelte sich innerhalb weniger Minuten zu einer Diskussion, die mich teilweise immer noch sehr wütend macht, wenn ich darüber nachdenke.

Die Expert:innen, alle im Bereich Marketing und Werbung tätig, waren sich in verschiedenen Punkten mehr als einig. Zunächst einmal hat Werbung in erster Linie ein Ziel: Geld verdienen. Gut, es ist keine Neuigkeit, dass uns etwas verkauft werden soll, dass wir konsumieren sollen und zwar am besten ohne darüber nachzudenken. Als wäre es ein menschliches Grundbedürfnis. Wir lernen diesen Wunsch nach Konsum und Besitz von Dingen, die wir in der Werbung sehen, von klein auf. Je jünger die Konsumierenden, desto stärker funktionieren bestimmte Werbebilder und die Indoktrination des immergleichen Mantras: Kauf, kauf, kauf! Wenn wir kaufen, verdienen Unternehmen Geld. Und das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Werbeagenturen einen guten Job gemacht haben und ebenfalls Geld verdienen. So weit so verständlich.

Nun hieß es im weiteren Verlauf der Diskussion, dass die Werbetreibenden sich der Verantwortung, die sie tragen, durchaus bewusst wären. Ein Beispiel für dieses Bewusstsein wäre die Entscheidung vieler Agenturen, bereits seit einigen Jahren in Werbekampagnen auch Frauen im Beruf darzustellen. Wie fortschrittlich, Frauen nicht nur als Mütter und Hausfrauen zu zeigen! Dem gegenüber stand der etwas „dusselige“ Mann, der, hach, einfach immer noch so vieles falsch macht, aber dabei doch so liebenswert und vor allem ein toller Vater ist, denn er versucht ja all das ohne Frau (!) zu bewerkstelligen, das möge sich einer mal vorstellen. 

Ein weiteres Beispiel bezog sich auf den diesjährigen Super Bowl, bei dem bekanntlich die Werbung fast schon wichtiger ist als der Sport selbst. Und mit Sicherheit wesentlich mehr Geld einbringt. Hier wurden in diesem Jahr angeblich deutlich mehr PoC’s in den Werbespots abgebildet als in der Vergangenheit. Dies sei auf die derzeitige soziale Stimmung und die heftigen Auseinandersetzungen in den USA zurückzuführen, die (erneut) durch den brutalen Mord an George Floyd ausgelöst wurden. Interessant, denn die Association of National Advertisers’ Alliance for Inclusive & Multicultural Marketing, kurz AIMM, hat eine fehlende Diversität in den diesjährigen Werbespots bemängelt:

„Forty-five percent of the ads had casts that represented diverse and inclusive audiences […] which is nearly identical to last year’s score.“

Jessica Wohl, adage.com

Neben fehlender Repräsentation von afroamerikanischen, asiatischen oder hispanischen Gruppen, werden laut AIMM auch LGBTQ+ und Menschen mit körperlichen Einschränkungen mit nur 1% absolut nicht ausreichend vertreten.

Diversität? Achso ne, doch nicht.

Tja, nice try. Aber war dann wohl nix mit der Diversität. Dementsprechend fällt es mir schwer, den Unternehmen und Agenturen damit den Grad an sozialem Bewusstsein zuzusprechen, den sie für sich beanspruchen, nur weil sie in der Lage waren, zu verstehen, was die Gesellschaft eventuell gerade von ihnen braucht und verlangt. Unternehmen nehmen einen gesellschaftlich aktuellen Prozess und brüsten sich damit, für eine marginalisierte Sache einzustehen. Diese Strategie wird auch als woke washing bezeichnet. 

Sich im Jahr 2021 stolz auf die Schulter zu klopfen, weil man Frauen in mehr Berufen darstellt oder einen schwarzen Protagonisten in einem Werbespot für zehn Sekunden eine Bühne bietet, aber eigentlich nur, um sich selbst als modern und angekommen darzustellen, ist irgendwie mehr als fragwürdig und halt gar nicht modern und angekommen. 

Die Konsument:innen dürfen dieses Bewusstsein bei den Werbeschaffenden einfordern. Denn dass die Riesen-Player mit absurden Geldsummen in der Hand sich nicht weiter vor sozialen Prozessen verstecken dürfen, ist ein absolut legitimer Anspruch der Konsument:innen. Leider gibt es auch heutzutage immer noch genug rassistische, sexistische oder grundsätzlich diskriminierende Werbung. Öffentliche Kontrollen und Einschränkungen funktionieren bisher scheinbar auch nur mittelmäßig. So ist der Deutsche Werberat die „Selbstkontrolleinrichtung der Werbewirtschaft”. Selbstkontrolle ist natürlich besonders dann heikel, wenn die Unternehmen einfach trotzdem auf die Grundsätze pfeifen. Im Jahr 2021 wurden bereits „sechs öffentliche Rügen”  wegen sexistischer Werbung ausgesprochen. Eine solche Rüge beinhaltet eine Aufforderung zur Einstellung oder Änderung der Werbung und das Einschalten der Presse. That’s it. Alles andere wäre Zensur. Und natürlich kann dies nicht das Ziel sein. Aber wenn weiterhin Diskriminierung in Werbung reproduziert werden kann, ohne dass die Unternehmen oder Werbetreibende wirkliche Strafen fürchten müssen, passiert am Ende herzlich wenig. 

Kauf mich, trink mich, nimm mich!

Dieses woke washing ist für mich Täuschung. Die Menschen werden hinters Licht geführt, ihnen wird wieder einmal etwas verkauft. Doch diesmal ist es kein Produkt, das sie essen oder anfassen können, sondern ein Mindset. Ein Lifestyle. Trink mich und zeig, dass du für Frauenrechte kämpfst! Kauf mich, um die Umwelt zu retten! Zeig dich mit mir und setze ein Statement! Diese Unternehmen geben nichts darauf, sich gegen Rassismus oder Sexismus oder für den Klimawandel einzusetzen. Sie gehen mit dem Flow. Mit dem Trend. Und was ist ein Trend? Etwas, das manchmal schneller vorbei ist als man denkt.

Im weiteren Verlauf der Diskussion hatte man immer mehr das Gefühl, dass die Expert:innen nicht gerade sehr offen für die Kritik der Studierenden waren. Eher im Gegenteil. Es ging schließlich um die Frage, ob Agenturen möglicherweise mit bestimmten Unternehmen nicht mehr zusammenarbeiten sollten, die immer wieder stark in die Kritik kommen, wie Amazon oder Nestlé. Dies könnte man als eine Art Statement gegen die Politik dieser Unternehmen verstehen. Das stieß grundsätzlich erst einmal auf Unverständnis bei den Expert:innen. Und führte dann sogar  zu der eskalativen Aussage:  „Wenn man nicht will, dass der Regenwald abgeholzt wird, sollte man halt kein Billigfleisch essen.“

Ihr seid schuld! Nein, ihr seid schuld!

Moment mal, wer ist Schuld? Ach ja, die Konsumierenden. Die das böse Billigfleisch im Supermarkt kaufen, damit böse Unternehmen unterstützen und dafür sorgen, dass die Welt eines Tages untergeht. Und nicht etwa das Unternehmen, das den Regenwald zunächst einmal abholzen ließ. Oder die Agentur, welche dem Unternehmen schließlich noch durch Werbung einen extra Schub verleiht. Am besten natürlich noch so, dass es wirkt, als wäre das Unternehmen ganz groß dabei in Sachen Klimaschutz, durch sogenanntes greenwashing. Die Schuld auf die Konsument:innen zu schieben, scheint zunächst mal sehr plakativ, aber genau darum ging es in der Essenz scheinbar.

„Boykottiert die halt!“


Man bedenke, dass hier ungefähr vierzig Studierende, Dozierende, Professor:innen und Expert:innen in ihrer Akademiker-Bubble zusammensaßen und darüber diskutierten, wer jetzt Schuld daran sei, dass gewisse Unternehmen so erfolgreich sind, oder dass der Regenwald abgeholzt wird. Die Grundidee der Expert:innen, die uns allen zur Lösung verhelfen sollte: „Boykottiert die halt!“

Die Bösen überleben nämlich nur, weil ihr sie unterstützt. 

Einfach den ganzen Kram nicht mehr kaufen. Kein Discounterfleisch, kein Nutella, weil Palmöl, kein Danone, weil gehört zu Nestlé, Nestlé sowieso nicht, weil einfach pure evil. Am besten lieber keine Apple-Produkte und bestellen bei Amazon ist das Schlimmste, was man machen kann. Ah Moment, hätte ich fast vergessen, du glaubst du tust der Welt mit Oatly Hafermilch was Gutes? Falsch gedacht! 

Wenn ich vorher gewusst hätte, dass ich all diesen Unternehmen schaden kann, indem ich sie einfach ganz dreist boykottiere, ja Mensch, wer weiß wo wir da heute wären?

Selbst ich, als Studierende mit viel Zeit zum Alles-mögliche-lesen, was mir so ins Haus flattert, und bei konstanter Nachrichtenbeschallung bei Twitter und Instagram, kann mir nicht merken, welche Unternehmen und Produkte zu meiden sind. Und ja, ich weiß, dass Billigfleisch nicht toll ist und ich versuche es nicht zu kaufen. Hab ich aber schon mal. Schocker. Aber mit einem Monatseinkommen von 800 Euro kann man sich eben auch nicht alles aussuchen.